John le Carré: „Ich habe wirklich Angst, Europa zu verlassen“

<p>David Cornwell, der als Schriftsteller den Künstlernamen John le Carré annahm, wurde 1931 als Sohn eines „professionellen Schwindlers“ geboren.</p>
David Cornwell, der als Schriftsteller den Künstlernamen John le Carré annahm, wurde 1931 als Sohn eines „professionellen Schwindlers“ geboren. | Foto: dpa

John le Carré, der Meister des Spionageromans, hat mit 88 Jahren ein neues Buch veröffentlicht. „Federball“ handelt wieder um Geheimdienst-Intrigen – aber dieses Mal vor dem Hintergrund der Brexit-Wirren in Großbritannien. Zur Veröffentlichung des Buchs sprach le Carré mit der Deutschen Presse-Agentur über den Widerstand gegen den Brexit und verpasste Chancen nach dem Ende des Kalten Krieges.

John le Carré, aus Ihrem neuen Buch kann man die Überzeugung davontragen, dass uns nur noch eine Rebellion der Anständigen retten kann? Ist es das, woran Sie glauben?

Ja, so ist es. Das Problem mit unserer aktuellen Situation in Großbritannien ist allerdings, dass die anständigen Menschen keine Stimme gefunden haben. Wir haben keine erkennbare Führungsfigur. Die Hoffnung liegt in Europa, ganz bestimmt nicht in den USA. Die absolute Idiotie des Handelns von Trump wird dort noch lange, lange nachwirken. Ich denke, wir werden erleben, wie er wiedergewählt wird, was ein Alptraum wäre. Und wenn die EU Schwäche zeigt, werden wir hier acht Jahre Boris Johnson als Premier bekommen.


Was genau finden Sie so schlimm an Boris Johnson?

Mein Gefühl ist, dass er sofort gestoppt werden muss. Es gibt keine Logik mehr in Johnsons Geschrei. Er rennt herum und verspricht allen Milliarden. Aber darüber hinaus erklärt er nicht, wie wir davon profitieren sollen, dass wir den mächtigsten Handelsblock der Welt verlassen. Er wird von denselben Impulsen wie Trump angetrieben. Er hat Narzissmus zu einer Kunstform gemacht. In Eton, wo er studierte, wird man nicht zum Regieren ausgebildet, sondern zum Gewinnen. Er wurde von Kindermädchen erzogen, er ist entfremdet von seinen Eltern, er ist ein eingefrorenes Kind. Er lebt in einer Jungs-Welt, in der Mädchen nur Möbel sind.


Sie sind als leidenschaftlicher Brexit-Gegner bekannt. Warum?

Ich habe wirklich Angst, Europa zu verlassen. Ich bin überzeugt, dass, wenn wir bleiben, wir den Geist Europas stärken können, und helfen, ein wirkliches Gegengewicht zu den USA, zu China zu schaffen. Und man sollte aufhören, von einer europäischen Armee zu sprechen, die wird immer nutzlos sein. Was wir hier gelernt haben, ist, wie fragil unsere Institutionen und unsere Demokratie sind.


Sie haben viel über den Kalten Krieg geschrieben – haben Sie eine Erklärung dafür, dass im Westen, der ihn gewann, die zentralen Grundwerte nun so zerbröseln?

Antwort: Wir haben damals, am Ende des Kalten Krieges, die Chance verpasst, zu einer neuen Weltordnung zu finden. Es gab keine große Vision. Und seitdem haben wir die Idee nationaler Geschlossenheit zugunsten von Kapitalinteressen aufgegeben. Nun ist das Silicon Valley vermutlich viel mächtiger und effizienter als Großbritannien. Und das ist, wohin man blicken würde, wenn es um eine neue Weltordnung geht. Wir brauchen effizientere Zusammenarbeit in allen Bereichen: Umwelt, Überbevölkerung, Migration. Vielleicht wird uns die Umwelt näher zusammenbringen - aber es ist herzzerreißend, dass die Wissenschaft hinter dem Klimawandel noch in Frage gestellt wird.


Aber sehen Sie aktuell wirklich Zeichen für ein Aufbegehren der Menschen oder eher das Gegenteil?

Ich denke, wir neigen dazu, uns abzukapseln und die Tatsache zu ignorieren, dass wir Teil einer globalen Katastrophe, einer ökologischen Katastrophe sind. Man sagt sich, egal, ich kümmere mich um mein Leben. Zugleich merke ich, dass mit all diesem Übel wir enger als Familie zusammenwachsen.

Zur Person John le Carré

Der Brite David Cornwell, der als Schriftsteller den Künstlernamen John le Carré annahm, wurde 1931 als Sohn eines „professionellen Schwindlers“ geboren, wie er selbst sagt. Sein Vater verstrickte sich stets in abenteuerliche Projekte und war fast immer auf der Flucht vor Geldgebern und manchmal auch der Polizei. Die Kindheit habe den Grundstein für sein späteres Leben als Geheimdienstler und Schriftsteller gelegt, sagt der 88-Jährige. Nach dem Durchbruch mit „Der Spion, der aus der Kälte kam“ konnte le Carré Anfang der 60er Jahre die Geheimdienst-Karriere aufgeben. (dpa)

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