Als die Tochter in Nordsyrien fiel: „Mein ganzer Körper brannte“

Der 30. Oktober 2018 wird niemals aus dem Gedächtnis der Familie von Salih und Dilvan Mohammed weggehen. An jenem Tag starb ihre Tochter Jara bei einem türkischen Luftangriff, zusammen mit weiteren elf kurdischen Kämpfern der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), darunter neun Frauen. Erst vor wenigen Monaten erhielten die Eltern und die vier jüngeren Brüder Mohamed, Mahmud, Aladin und Resid die Gewissheit, dass ihre Tochter und Schwester, die sich den Kampfnamen Elefterya (Freiheit) gegeben hatte, tatsächlich unter den Opfern des Angriffs türkischer Kampfflieger vor einem Jahr auf syrischem Boden war.

IS-Kämpfer durchkreuzten das Gebiet: „Seitdem ist es hier unruhig“.

Das Leben im Dreiländereck zwischen Syrien, der Türkei und dem Irak ist für die dort lebenden Menschen schon lange nicht mehr, wie es einmal war. Die Region unmittelbar links des Tiger, der die Grenze zum Irak bildet, ist schon jahrelang gefährlich, berichtet Salih Mohammed. Eigentlich, seit es die Terrormiliz IS gibt. Viele IS-Kämpfer haben in dieser Region, deren größte Stadt al-Malikiya rund eine halbe Million Menschen zählt, die Grenze Richtung Syrien oder Irak überquert. „Seitdem ist es hier unruhig“, erinnert sich Salih. Er hat die Stadt vor drei Jahren verlassen, als die Türken die Grenze überschritten und das syrische Gebiet im Dreiländereck einnahmen. Die Medien haben davon nicht berichtet, ihre Aufmerksamkeit galt dem 300 Kilometer entfernten Rakka.

Salih war eigentlich Bulldozerfahrer. Er gehörte einer lokalen Miliz an und hatte nebenher ein wenig Vieh, so wie viele der Kurden, Assyrer, Armenier und Araber, die früher in dieser Region friedlich nebeneinander lebten. Und das obwohl sie als Jesiden, Sunniten, Alawiten oder orthodoxe Christen unterschiedliche religiöse Überzeugungen haben.

Plötzlich schoss die türkische Patrouille über die Grenze hinweg auf Salih und seine Tiere.

Wie gefährlich es in der Region war, mag eine Begebenheit veranschaulichen, die sicher auch dazu beitrug, dass Salih vor drei Jahren flüchtete und nach Eupen kam, abgesehen davon, dass es in seiner Familie schon erste Tote gegeben hatte. Er trieb sein Vieh entlang der syrisch-türkischen Grenze. Auf der anderen Seite der Grenze war eine türkische Patrouille unterwegs. Einer der Soldaten schoss, ohne erkennbaren Grund, in seine Richtung und traf eines seiner Tiere tödlich. Salihs Familie floh damals erst einmal zu Verwandten nahe Derik, so heißt die Stadt al-Malikiya auf kurdisch. Sechs Monate nach seiner Flucht schloss sich die damals 17-jährige Jara den kurdischen „Volksverteidigungseinheiten“ YPG an. „Mein ganzer Körper brannte“, erinnert sich Salih an den Augenblick, als er es erfuhr. „Aber wenn sie sich dafür entscheidet...“ Im Frühjahr 2019 verließen dann seine Frau und die vier Söhne das Gebiet und kamen nach Eupen. Heute besuchen sie hier die Schule, die beiden älteren das RSI, die beiden jüngeren die SGO - und lernen schwerpunktmäßig Deutsch. Genau wie die Eltern.

Über Telefon und Internet bleibt man mit der Heimat in Verbindung. Von den 200 Familien, die einst in ihrem Dorf Andiwar lebten, sind inzwischen fast alle geflüchtet, die meisten nach Derik. Dort wurde im Übrigen Hafrin Khalef geboren, die Ende letzter Woche von einer türkischen Miliz ermordet wurde. Man bleibt auch in Kontakt mit der Familie Noch immer leben vier Brüder und drei Schwestern mit ihren Familie in der Region. So weiß man auch im fernen Eupen, dass im Heimatdorf seit Beginn der türkischen Offensive mehrere Häuser zerstört und mindestens zwei Kämpfer der SDF, in der die von Erdogan als Terroristen abgestempelten kurdischen Kämpfer der YPG die Hauptlast tragen, getötet wurden. „Uns wurde die Lebensgrundlage genommen“, erklärt Sahih, „aber die Menschen können nicht einmal weg“. Die Grenze zum Irak ist praktisch hermetisch geschlossen, obschon auch jenseits dieser Grenze Kurden in weitgehender Selbstverwaltung leben. Hinter der Stadt Derik beginnt arabisches Gebiet, auch dorthin kann man nicht fliehen.

„Wenn Europa nicht kämpfen will, sollen sie wenigstens nicht die Türkei unterstützen.“

Die Familie von Salih Mohammed muss wenigstens nicht mehr um ihr Leben fürchten. An der Wand über dem Esstisch hängt ein großes Poster, das Tochter Jara in Uniform zeigt. „Wir hatten Angst, aber sie hat uns immer wieder Mut gemacht“, ihr Vater blickt zu dem Bild. „Jede Familie hat so etwas“, sinniert er.

Obschon er sich sicher ist, dass es keine Rückkehr in die Heimat geben wird, klingt seine Stimme nicht verbittert, als er erklärt, dass Europa sich, wenn es schon nicht kämpfen wolle, wenigstens dafür einsetzen soll, dass alle Parteien an den Verhandlungstisch kommen. Wenn das nicht klappe, „soll Europa wenigstens alle Unterstützung für die Türkei stoppen“.

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