„Wolfsmensch“ überwinden

<p>Das EU-Parlament wird derzeit von einem Korruptionsskandal erschüttert.</p>
Das EU-Parlament wird derzeit von einem Korruptionsskandal erschüttert. | Foto: belga

Ein aktueller Gastkommentar beschäftigt sich mit den Affären rund um Luxusreisen hochrangiger politischer Vertreter der Wallonischen und mit dem Korruptionsverdacht im Europäischen Parlament. Geschrieben hat den Gastkommentar Daniel Hilligsmann. Hier der Beitrag in voller Länge: „Homo homini lupus est“ (Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf), schrieb Plautus um 195 vor Christus. Im 17. Jahrhundert ließ sich Thomas Hobbes in seinem meisterhaften Leviathan hiervon inspirieren und argumentierte, dass im „Naturzustand“, in dem es keine sozialen Regeln gibt, der grundsätzlich schlechte Mensch sich selbst am nächsten sei. Hobbes zufolge verlangen die Leidenschaften des Individuums nach einer Zügelung durch den Rechtsstaat, ohne den keine kollektive Freiheit existieren kann. Im Dezember 2022 erschüttern Luxusreisen hochrangiger Regionalvertreter und Korruptionsverdachte im Europäischen Parlament die politische Welt. Sie scheinen die Hobbessche These zu bestätigen, wonach der einsame „Wolfsmensch“ grundsätzlich dazu neigt, vor allem sich selbst zu dienen. Im Radiointerview empörte sich ein griechischer Bürger: „Ich denke, dass sich die Politiker seit Jahren vor allem mit sich selbst beschäftigen, und das auf Kosten der einfachen Bürger“.

In beiden eben genannten Fällen hat der Rechtsstaat letztendlich seine zügelnde Funktion erfüllt. Die Betroffenen müssen die als angemessen erachteten Konsequenzen ihres Handelns tragen. Der Schaden, der im Hinblick auf das Vertrauen in Politik und Institutionen angerichtet wurde, ist jedoch nach wie vor beträchtlich und unumkehrbar. Unabhängig davon, ob es sich um Einzelfälle handelt oder nicht, betreffen die jüngsten Skandale die Politik auf allen Ebenen. Wieder einmal wurde das populistische Klischee von „denen da oben, die sich die Taschen vollstopfen“ bedient. Man kann sich vor diesem Hintergrund kaum noch wundern, wenn „sich niemand mehr engagieren will“.

In einer Zeit des ständig wachsenden Populismus, in der der rechtsextreme Vlaams Belang erschreckenderweise die Spitze der flämischen Umfragen erreicht, haben einzelne Mandatsträger einem ganzen Berufsstand und der Grundlage unseres Zusammenlebens in Frieden, Freiheit und Demokratie schwer geschadet. Klargestellt sei, dass es sich nicht um ein weiteres vermeintliches „Versagen des alten weißen Mannes“ handelt. Im Gegenteil: die aktuellen Ereignisse zeigen, dass inakzeptable Verhaltensweisen weder ein Alter noch ein Geschlecht haben.

Es ist höchste Zeit, eine neue Seite aufzuschlagen.

Es ist höchste Zeit, eine neue Seite aufzuschlagen. Im Jahr 2022, in dem sich in Europa und überall auf der Welt zahlreiche (menschengemachte) Krisen überlagern, und in dem einflussreiche Kräfte aus dem Ausland oder den eigenen Reihen danach streben, unsere Demokratien und unsere über Jahrhunderte aufgebauten Lebensweisen zu destabilisieren, ist es höchste Zeit, den „Wolfsmensch“ zu überwinden, der sich egoistisch von Eigeninteressen und Sporttaschen voll Geld leiten lässt.

In einer dringend benötigten Transparenzinitiative müssen die Einflüsse der rund 37.000 Lobbyisten in unserer Hauptstadt (Vgl. Transparency International) durchleuchtet und umrahmt werden. In allen Landesteilen sollten die Verbindungen der Institutionen und ihrer Mitarbeiter zu privaten und öffentlichen Interessengruppen grundlegend, kritisch und im Sinne der Allgemeinheit auf den Prüfstand gestellt werden. Nicht zuletzt sollten wir den Mut haben, es besser machen zu wollen. Engagieren wir uns für eine kollektive Dynamik, die würdig ist, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen. Setzen wir uns dafür ein, dass Politik wieder mit etwas Positivem und Erstrebenswertem verbunden wird. Stellen wir unseren ehrlichen Willen unter Beweis, Einzelinteressen und Ideologien zu überwinden, und gemeinsam und ohne Tabus dringend notwendige Antworten auf die uns alle betreffenden dramatischen Herausforderungen unserer Zeit zu finden: Klimawandel, bewaffnete Konflikte, geopolitische Destabilisierung, Gesundheits- und Naturkatastrophen, gesellschaftliche Polarisierung, Wiederaufflammen der Extreme, ...

Wir sind dazu in der Lage, den tiefgreifenden Krisen unserer Zeit zu begegnen, gemeinsam. Seien wir vorsichtig zuversichtlich: „Wo das öffentliche Wohl mit dem besonderen Wohl aufs genaueste verbunden ist, ist jenes am stärksten gesichert“ (Leviathan). Die Alternative lautet, sich weiter als Wölfe spalten zu lassen. In diesem Fall droht uns Hobbes: „Und sein Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ (ibid).

Daniel Hilligsmann ist Kabinettschef von Ministerpräsident Oliver Paasch und Mitglied der Freitagsgruppe.

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