Die Diskussion über die WM 2022 in Katar im Zeitraffer

<p>Der frühere FIFA-Präsident Joseph S. Blatter bezeichnet die WM-Vergabe als „Irrtum“.</p>
Der frühere FIFA-Präsident Joseph S. Blatter bezeichnet die WM-Vergabe als „Irrtum“. | Foto: belga

2. Dezember 2010: FIFA-Präsident Joseph S. Blatter verkündet in Zürich die Vergabe der Weltmeisterschaft 2022 an Katar. Der Wüstenstaat gewinnt die Wahl in der vierten Runde mit 14:8 Stimmen gegen die USA. Weitere Bewerber waren Südkorea, Japan und Australien. Als einer der Ersten reagiert US-Präsident Barack Obama. „Das ist eine schlechte Entscheidung“, sagt er. Die WM 2018 wird am selben Tag an Russland vergeben.

3. Dezember 2010: Nachdem schon vor der Wahl massive Korruptionsvorwürfe laut geworden waren, überschlägt sich die Presse am Tag danach. „Schwindel!“, titelt die britische Sun, die Times schreibt: „Das System, die WM an diese Länder zu vergeben, ist abscheulich korrupt.“ England hatte sich für die WM 2018 beworben.

7. Januar 2011: UEFA-Chef Michel Platini plädiert für eine WM im Winter. Blatter gibt an, persönlich auch eine „angenehme Atmosphäre“ vorzuziehen, die FIFA sei aber neutral. Wenn überhaupt, müsse das WM-Organisationskomitee auf den Weltverband zukommen.

27. März 2011: Blatter erkennt einen Fehler im Vergabe-Modus und gibt zu, dass es „nicht die schlaueste Idee“ war, beide Endrunden gleichzeitig zu vergeben. Da sich zudem 2018 nur europäische Verbände und 2022 der „Rest der Welt“ beworben haben, sei eine „irgendwie verschwommene Situation“ entstanden. Die Gefahr einer „Hilfst Du mir, helfe ich Dir“-Einstellung sei zu groß gewesen.

11. Mai 2011: Der katarische Geschäftsmann Mohamed Bin Hammam, Präsident der asiatischen Konföderation und FIFA-Präsidentschaftskandidat, weist alle Korruptionsvorwürfe gegen sein Land zurück. Am Ende des Monats wird er wegen Korruption für immer aus dem Weltverband verbannt.

17. November 2011: Der Internationale Gewerkschaftsbund IGB fordert den Rücktritt des WM-OK wegen „Verletzung der Arbeitnehmerrechte“.

27. August 2012: Der frühere US-Anwalt Michael Garcia, Vorsitzender der Untersuchungskommission der neuen FIFA-Ethikkommission, kündigt eine Untersuchung beider WM-Vergaben an.

16. Juli 2013: Blatters Kehrtwende. Der FIFA-Boss sagt völlig überraschend, dass es im Sommer in Katar viel zu heiß sei, um Fußball zu spielen. Die Verlegung in den Winter durch das Exko sei bei der nächsten Sitzung Formsache.

25. Juli 2013: Die britische Premier League wehrt sich massiv gegen eine Winter-WM. PL-Boss Richard Scudamore prophezeit „Chaos“ durch den zwangsweise veränderten Spielplan. Die Diskussion über einen genauen Termin treibt einen Keil in die Fußball-Welt. Blatter will im November/Dezember 2022 spielen, Platini im Januar/Februar 2022.

20. August 2013: Ein internationaler Gewerkschaftsbund setzt die Baufirmen in der Wüste unter Druck und beschreibt Katar als „Sklavenstaat“ ohne Rechte für die Arbeitnehmer.

20. September 2013: Nachdem Blatter plötzlich von großem „direkten politischen Einfluss“ bei der WM-Vergabe gesprochen hatte, was vor allem als deutlicher Seitenhieb gegen Michel Platini zu verstehen war, antwortet der UEFA-Boss höchst ironisch: „Ich glaube, mit seiner sehr, sehr, sehr großen Erfahrung hat Herr Blatter es gemerkt, dass es bei der Vergabe von Großereignissen politischen Einfluss gibt. Schön, dass er es jetzt gemerkt hat.“

26. September 2013: Der Guardian enthüllt unmenschliche Arbeitsbedingungen auf Baustellen in Katar und berichtet von 44 toten nepalesischen Gastarbeitern allein zwischen dem 4. Juni und dem 8. August. Der IGB spricht von „moderner Sklaverei“ und prophezeit auf dem Weg zu den Spielen 4000 Leichen.

30. September 2013: Der Vorsitzende des Nationalkomitees für Menschenrechte in Katar, Ali Al-Marri, weist alle Vorwürfe zurück. Das WM-OK zeigt sich in einer Stellungnahme aber „entsetzt“.

3. Oktober 2013: Am Vorabend der Entscheidung des FIFA-Exkos zeigt sich das WM-OK völlig gelassen. „Wir waren und sind absolut davon überzeugt, dass uns niemand die Weltmeisterschaft wegnimmt“, sagt OK-Generalsekretär Hassan Al Thawadi.

4. Oktober 2013: Das FIFA-Exekutivkomitee vertagt die Entscheidung über eine WM-Verlegung.

4. November 2013: Franz Beckenbauer sorgt mit einer verharmlosenden Aussage für Aufsehen: „Ich habe noch keinen einzigen Sklaven in Katar gesehen.“

19. März 2015: Das WM-Finale wird auf den 18. Dezember gelegt. Das Eröffnungsspiel soll am 21. November stattfinden.

27. Juni 2017: Die FIFA veröffentlicht den kompletten Bericht ihres ehemaligen Chefermittlers Michael Garcia. Garcia hatte die Doppelvergabe der WM-Endrunden untersucht. Die früheren Vorsitzenden der Ethikkommission, Cornel Borbely und Hans-Joachim Eckert, fanden bei der Überprüfung des Dokuments keine Anzeichen für Bestechung oder Korruption und lehnten deshalb eine Veröffentlichung ab.

29. Juli 2018: Die Sunday Times erhebt weitere Vorwürfe. Katar soll vor der Vergabe der Endrunde gezielt falsche Informationen über die Konkurrenten verbreitet haben.

22. Mai 2019: Der von FIFA-Präsident Gianni Infantino favorisierte Plan einer Aufstockung von 32 auf 48 Mannschaften scheitert.

18. Juni 2019: In der Affäre um die WM-Vergabe nimmt die französische Justiz den früheren UEFA-Präsidenten Michel Platini ins Visier. Der einstige Weltstar wird im Zusammenhang mit Korruptionsermittlungen in Polizeigewahrsam genommen. Platini erklärt, er sei „völlig unbeteiligt“.

7. April 2020: Katar weist die in den US-Gerichtsunterlagen enthaltenen Vorwürfe „auf das Schärfste“ zurück: „Trotz jahrelanger falscher Behauptungen wurden nie Beweise dafür vorgelegt, dass Katar die Rechte für die Ausrichtung der WM 2022 unethisch oder mit Mitteln gewonnen hat, die gegen die strengen Bewerbungsregeln der FIFA verstoßen.“

9. Februar 2021: Katar startet eine neue Initiative, um der Kritik am Umgang mit den Menschenrechten im Emirat entgegenzuwirken.

19. März 2021: Infantino lobt die Entwicklung der Menschenrechtslage im WM-Gastgeberland Katar. „Wir müssen uns auch die Geschichte angucken, wo Länder herkommen“, sagt der Schweizer, „ein Fortschritt ist passiert, das wurde nicht nur von der FIFA, sondern auch von internationalen Organisationen festgestellt. Es ist ein Prozess. Aber das kann nur durch Dialog und Respekt passieren.“

14. September 2021: Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International lehnt einen Boykott der WM ab.

16. Januar 2022: FIFA-Präsident Infantino verlegt seinen Lebensmittelpunkt in die katarische Hauptstadt Doha.

31. März 2022: Beim FIFA-Kongress in Doha übt die norwegische Verbandspräsidentin Lise Klaveness in einer bemerkenswerten Rede scharfe Kritik am Weltverband und an Katar. Die WM sei auf „inakzeptable Art und Weise vergeben“ worden, „und das hatte inakzeptable Folgen“. Nur wenige Delegierte im Saal applaudieren, OK-Chef Hassan Al-Thawadi weist die Vorwürfe kurz darauf zurück. Gianni Infantino erwartet die „beste WM jemals“.

7. April 2022: Amnesty International berichtet von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen im privaten Sicherheitssektor, von Zwangsarbeit und Strafandrohungen. Die Anschuldigungen wiegen derart schwer, dass selbst die WM-Organisatoren die Ausbeutung von Arbeitern einräumen.

13. Mai 2022: Mehrere der offiziellen WM-Hotels lehnen homosexuelle Gäste ab oder haben zumindest starke Vorbehalte gegen deren Unterbringung. Das zeigen Recherchen des norwegischen Rundfunks. Human Rights Watch zudem über “sechs Fälle von schweren und wiederholten Schlägen und fünf Fälle von sexueller Belästigung in Polizeigewahrsam“ gegen Personen der LGBT-Gemeinschaft.

19. Mai 2022: Amnesty International fordert mit Gewerkschaften und Fangruppen ein Entschädigungsprogramm für von Menschenrechtsverletzungen betroffene Arbeitsmigranten. Demnach solle die FIFA mit dem Emirat „mindestens 440 Millionen US-Dollar“ bereitstellen.

25. Oktober 2022: Der Emir von Katar geißelt die anhaltende Kritik als „beispiellose Kampagne“ inklusive „Erfundenem und Doppelmoral“. Bei einer Fernsehansprache beklagt Scheich Tamim bin Hamad Al-Thani, dass noch kein Endrunden-Ausrichter derart heftig angegangen worden sei.

4. November 2022: Gianni Infantino hat nach jahrelangen Diskussionen genug von der Kritik. „Konzentrieren wir uns auf den Fußball“, schreibt er in einem Brief an die Verbände der 32 WM-Teilnehmer. Ihm sei bewusst, dass „der Fußball nicht in einem Vakuum existiert und es weitreichende politische Probleme auf der ganzen Welt gibt“. Er fordert: „Bitte lasst nicht zu, dass der Fußball in jeden politischen und ideologischen Kampf gezogen wird.“

7. November 2022: Ein offizieller WM-Botschafter bezeichnet Homosexualität als „geistigen Schaden“. Ex-Nationalspieler Khalid Salman sagt, er habe vor allem Probleme damit, wenn Kinder Schwule sähen.

8. November 2022: Der frühere FIFA-Präsident Joseph S. Blatter bezeichnet die WM-Vergabe als „Irrtum“ und übernimmt einen Teil der Verantwortung dafür. (mn/sid)

Kommentare

Kommentar verfassen

0 Comment