Ein ESC im Schatten des Ukraine-Krieges

<p>Die ukrainische Band Kalush Orchestra stammt aus dem Westen des Landes. Experten und Buchmacher erwarten einen Solidaritätseffekt des Publikums.</p>
Die ukrainische Band Kalush Orchestra stammt aus dem Westen des Landes. Experten und Buchmacher erwarten einen Solidaritätseffekt des Publikums. | Foto: Luca Bruno/AP/dpa

Viel Glitzer, Lichteffekte und schmachtende Balladen: Eine große bunte Party durch alle Genres, bei der die Tagespolitik außen vor bleibt. So sieht sich der Eurovision Song Contest (ESC) gern selbst. „Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur“ sind auf der Bühne sogar explizit verboten. In einem Jahr, in dem Russland die Ukraine angreift und nahezu die ganze Welt die Auswirkungen spürt, kommt aber auch der Grand Prix kaum an den Ereignissen vorbei. Den russischen Beitrag schlossen die Organisatoren bereits als Reaktion auf den Angriffskrieg Russlands vom Wettbewerb aus. Hoch gehandelt wird hingegen der Act der Ukraine.

Das Land tritt im italienischen Turin mit der Band Kalush Orchestra an. Geht es nach den Buchmachern, ist der Gruppe der Sieg schon sicher - nicht zuletzt aus Solidarität der Zuschauer mit dem leidenden Volk der Ukraine. „Stefania“ heißt der Song, den die sechs ukrainischen Musiker dem weltweiten Publikum präsentieren wollen. Am Dienstag schafften sie erwartungsgemäß den Einzug ins Finale an diesem Samstag. Das Lied ist eine Mischung aus Rap und ukrainischer Volksmusik. Eine trällernde Flöte wechselt sich mit hymnischen Stefania-Rufen und Hip-Hop-Passagen ab. Rapper Oleh Psjuk hat das Lied vor Kriegsausbruch geschrieben und es seiner Mutter gewidmet, wie der 27-Jährige sagte.

Dass das Publikum die Ukraine bei Europas größtem Musikfest möglicherweise eher aus Solidarität zum Sieger kürt und nicht, weil der Song der Beste ist, ist eher Nebensache. „Es wäre der Sieg aller Ukrainer“, sagte Psjuk. Ob sie auf der internationalen Bühne in ihrer Show ein Zeichen gegen den Krieg setzen, ließ er offen: „Wir haben ein paar Kostüm-Anpassungen vorgenommen und unserem Auftritt ein paar Veränderungen hinzugefügt.“ Er verwies aber darauf, dass es beim ESC eben bestimmte Regeln für den Auftritt und die Performance gebe. Das Kalush Orchestra wäre ursprünglich gar nicht nach Turin gereist. Im nationalen Vorentscheid im Februar belegten sie Platz zwei. Den Sieg holte Alina Pash mit „Shadows Of Forgotten Ancestors“. Später geriet die 29-Jährige wegen einer Reise auf die von Russland annektierte Halbinsel Krim im Jahr 2015 und angeblich gefälschten Papieren in die Kritik. Pash zog daraufhin ihre Teilnahme zurück.

Auch Belgien ist wieder im Finale vertreten. Jérémie Makiese („Miss You“) baut nach seinem Finaleinzug am späten Donnerstagabend auf seine Sporterfahrung: „Ich bin ein Fußballer und im Fußball müssen wir mental stark sein. Ich bringe das einfach in diesen Wettbewerb mit“, erklärte er. Am Samstagabend tritt Belgien auf Platz 16 an, nach Aserbaidschan und vor Griechenland. Bei „Miss You“ handelt es sich um ein souliges Poplied mit R&B-Note. Jérémie Makiese möchte in dem Lied mit der Vergangenheit Schluss machen und nach vorne blicken.

Den Sieg errang 2021 in der niederländischen Hafenstadt Rotterdam die italienische Rockband Måneskin mit „Zitti e buoni“ (Leise und brav), weshalb Italien in diesem Jahr den Grand-Prix ausrichtet. Måneskin werden am Samstag einen Gastauftritt haben. Die Italiener sind in diesem Jahr erneut Kandidaten für die oberen Ränge. Das Sänger-Duo Mahmood und Blanco vertritt sein Land mit der Ballade „Brividi“.

Chancen auf die ersten fünf Plätze hat neben Italien auch der britische Vertreter Sam Ryders mit seinem Pop-Song „Space Man“. Die Buchmacher rechnen zudem der Spanierin Chanel und ihrer verführerischen Tanznummer „SloMo“ Top-Five-Chancen zu. Um die oberen Ränge dürfte auch die Schwedin Cornelia Jakobs miteifern, die mit ihrer rockig-röhrig gesungenen Pop-Ballade die Skandinavier vertritt.

Sollte die Ukraine aber wirklich das Rennen machen, stehen die ESC-Organisatoren möglicherweise vor einem Dilemma. Die Band selbst ist optimistisch und sagt, der ESC würde in der Ukraine ausgetragen werden, denn nach den gewohnten Regeln des Gesangswettbewerbs müsste er 2023 dann im Land des Gewinners - also in diesem Fall in dem potenziellen Krisengebiet Ukraine - stattfinden.

Die Europäischen Rundfunkunion EBU will dieses Szenario öffentlich noch nicht durchspielen, sondern frühestens, wenn das Siegerland feststeht. (dpa/sc)

HINTERGRUND: Finale am Samstagabend in der Mehrzweckhalle „Palasport Olimpico“ – Belgien konnte ESC einmal gewinnen

Das Finale beim Eurovision Song Contest mit insgesamt 25 Ländern läuft an diesem Samstagabend (14. Mai) ab 21 Uhr. Es moderieren Laura Pausini, Alessandro Cattelan und Mika.

Vor dem Finale standen die beiden Halbfinals, in denen sich jeweils zehn Länder für die Finalshow qualifiziert haben. Das erste Halbfinale fand am 10. Mai statt, am 12. Mai lief das zweite Halbfinale, in dem sich auch Belgien für die Endrunde qualifizieren konnte.

Automatisch für das Finale des Song Contest gesetzt sind die sogenannten „Big Five“ (Deutschland, Frankreich, Spanien, Großbritannien und Italien). Außerdem erhält auch immer das Gastgeberland einen Finalplatz. Da dies aber in diesem Jahr das Big-Five-Land Italien ist, besteht das Finale aus 25 statt üblicherweise aus 26 Ländern.

Im großen Finale kehren die Vorjahressieger von Rotterdam als Interval Act auf die ESC-Bühne zurück: Måneskin spielen ein Medley, „Zitti e buoni“ inklusive. Darüber hinaus singt Gigliola Cinquetti ihren ESC-Siegersong „Non ho l’età“. Im Jahr 1964 gewann sie damit als erste italienische Teilnehmerin den Eurovision Song Contest. Die Moderatoren Laura Pausini und Mika runden mit Medleys das Pausenprogramm ab.

Der Veranstaltungsort atmet schon Wettkampfstimmung. Die Finals werden im Palasport Olimpico ausgetragen, eine Mehrzweckhalle, die die Stadt für die Olympischen Winterspiele 2006 baute. Schon Pop-Queen Madonna, Lady Gaga oder Depeche Mode füllten diese Ränge.

Belgien zählt zu den Gründern des Eurovision Song Contest 1956. Seitdem nahm unser Land mehr als 50 Mal an dem Gesangswettbewerb teil. Die belgischen Teilnehmer werden immer im Wechsel vom wallonischen (RTBF) und flämischen Fernsehen (VRT) bestimmt. Gewonnen hat das Belgien ein Mal: Sandra Kim holte die Trophäe 1986 mit „J'aime la vie“.

In Erinnerung geblieben ist auch der Auftritt von Urban Trad. Die Band belegte beim ESC 2003 mit dem Song „Sanomi“. Das Besondere daran: Ihr gesamter Text bestand aus einer frei erfundenen Fantasiesprache. (sc)

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