Rudi der Besessene - Vor 50 Jahren startete „Am laufenden Band“

<p>Der niederländische Showmaster Rudi Carrell posiert am 18. Mai 1978 mit seinen Assistentinnen (l-r) Tina, Mareike und Hilla.</p>
Der niederländische Showmaster Rudi Carrell posiert am 18. Mai 1978 mit seinen Assistentinnen (l-r) Tina, Mareike und Hilla. | Foto: Schilling/dpa

Vor 50 Jahren, am 27. April 1974, ließ sich Rudi Carrell auf einem Fließband vor die Kamera rollen und sang das Lied „Wir schaffen täglich am laufenden Band“. Es war der Auftakt zur beliebtesten deutschen Fernsehshow der 70er Jahre mit bis zu 30 Millionen Zuschauern pro Folge. Es ist heute kaum noch vorstellbar, dass man sich am Montagmorgen nach der Sendung mit so ziemlich jedem Kollegen oder Mitschüler darüber unterhalten konnte - es gab schlichtweg kaum jemanden, der sie nicht gesehen hatte. Wenn man heute, ein halbes Jahrhundert später, etwas über die Show erfahren will, dann muss man in Köln einen Mann mit dem Namen Thomas Woitkewitsch aufsuchen. Woitkewitsch war neben Rudi Carrell und Produzent Alfred Biolek als Co-Produzent der dritte prägende Mann hinter „Am laufenden Band“.

Er hat nicht nur den Titel der Show erfunden, sondern auch die Kandidaten ausgesucht, Rudis Gags, Sketche und Spiele erdacht und alle Lieder geschrieben, die dieser in der Show sang, darunter immer eins zum Einstieg. Mehrere Titel wurden zeitlose Hits, allen voran: „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer“. Das würde er selbst so aber nie sagen, denn er ist der bescheidenste Mensch, den man sich vorstellen kann. „Ich habe in meinem Leben mit vielen Stars zusammengearbeitet, aber Rudi Carrell war etwas ganz Besonderes“, erzählt der heute 80-Jährige bei Kaffee und Keksen. Einfach war „der Rudi“ nicht - sondern im Gegenteil für seine Wutausbrüche berüchtigt. Zeitweise war es so schlimm, dass das Aufnahmeteam von „Am laufenden Band“ in den Streik trat - wenige Tage vor der nächsten Show. „Daraufhin hat er uns alle in ein Top-Lokal eingeladen und sich entschuldigt.“ Da seien dann alle wieder versöhnt gewesen.

„Aber ganz klar war eben immer: Rudi war der Boss und ließ das raushängen“, erzählt Woitkewitsch. „Deshalb bin ich anfangs auch wirklich nicht in die Luft gesprungen, als ich mit ihm zusammenarbeiten sollte. Ich war noch jung und wollte eher ins Kulturelle. Aber er hat mich dann überzeugt durch seine Besessenheit. Ich habe nie einen Menschen kennengelernt, der so besessen von seiner Arbeit war. Es gab für ihn nur das Showbusiness und sonst nichts.“ Freunde? Dafür habe er keine Zeit, pflegte er zu sagen. „Am laufenden Band“ wurde immer live am Samstagabend aus einem Studio von Radio Bremen übertragen. Federführend war aber der finanzstarke Westdeutsche Rundfunk (WDR), weshalb Biolek und Woitkewitsch ihr Büro auch in Köln hatten. Immer am Montagmorgen vor der Show fuhr das Team mit Bauchgrummeln nach Bremen. Woitkewitsch weiß noch genau, wie er sich damals fühlte: „Im Zug hab ich mich immer gefragt: "Hab' ich genug Ideen? Was sag' ich ihm gleich?" Ich hatte Angst vor dem Mann!“

In Bremen saß Carrell schon ungeduldig in seinem völlig verqualmten Büro vor einem überfüllten Aschenbecher und trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. „Das Bild werde ich nie vergessen“, erinnert sich Woitkewitsch. „Kein Lächeln, gar nichts.“ Stattdessen die Frage: „Also, was machen wir Samstag?“ Alles entstand dann erst in den sechs Tagen bis zur Sendung. Die Texte für das Eröffnungslied wurden mitunter erst Minuten vor der Sendung von Woitkewitsch fertiggestellt und von Carrell - der die Melodie schon eingeübt hatte - dann trotzdem fehlerfrei gesungen. Die gleiche Professionalität erwartete der schlaksige Showstar mit dem weichen holländischen Akzent allerdings auch von allen anderen. Wenn die Live-Show zu Ende war, zitierte Carrell das ganze Team zu allem Überfluss noch vor einen Fernseher, um sich eine Aufzeichnung der gerade gelaufenen Sendung anzuschauen. „Wir waren ausgepowert, wir wollten in die Disco, wir hatten die Schnauze voll, aber nein, wir mussten uns alles nochmal ansehen. Und dann lachte er, wo es was zu lachen gab, und bei allem, was nicht gut gelaufen war, wurde man von ihm zur Schnecke gemacht. Nach dem Motto: "Hab' ich doch gleich gesagt. Nächstes Mal läuft das anders!"“

Woitkewitschs Fazit: „Diese sechs Tage in Bremen, die waren die Hölle. Ich habe in meinem ganzen Leben keinen solchen Stress erlebt - aber auch nie so viel gelernt.“ Die Zeit bei „Am laufenden Band“ sei auf jeden Fall die interessanteste seiner ganzen Laufbahn gewesen - „und dafür bin ich Rudi sehr dankbar“. Das Neue an „Am laufenden Band“ war, dass dort erstmals Durchschnittsbürger auftraten, die sich spontan in witzigen und ungewöhnlichen Situationen bewähren mussten. Pro Show gab es vier Kandidatenpaare, die jeweils in einer verwandtschaftlichen Beziehung zueinander standen, also zum Beispiel Oma und Enkel. „Die Kandidaten waren das A und O“, erläutert Woitkewitsch. „Alles hing von ihrer Originalität ab.“ Insgesamt bewarben sich nach Recherchen des Rudi-Carrell-Biografen Jürgen Trimborn im Laufe der Zeit 200.000 Kandidatenpaare. Für die Auswahl entwickelte Woitkewitsch einen speziellen Fragebogen. Eine Frage hieß: „Was würden Sie in der Show auf keinen Fall machen?“ Darauf antwortete die katholische Nonne Schwester Renata: „Einen Kopfstand.“ Denn das hätte dazu geführt, dass ihr das Ordenskleid über den Kopf gerutscht wäre. Woitkewitsch fand die Antwort so originell, dass er die Schwester sofort einlud - sie wurde aufgrund ihrer Schlagfertigkeit die berühmteste Kandidatin von allen.

Um zu überprüfen, ob sich die Kandidaten von einer ungewohnten Umgebung einschüchtern ließen, lud Woitkewitsch die 22 Paare in der Endauswahl jedes Mal in ein Kölner Luxushotel zum Essen ein. Die endgültige Entscheidung traf Carrell selbst auf der Grundlage von Videobändern. 1977 bewarb sich ein Mann, dessen Tochter wenige Tage zuvor als Stewardess die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ durch Terroristen durchlitten hatte. „Ich bin dann da hingefahren und bekam einen richtigen Schrecken“, erzählt Woitkewitsch. Die junge Frau war eindeutig traumatisiert, „das sah ich schon als psychologischer Laie. Ich habe dann den Vater gefragt: "Warum haben Sie sich bei uns beworben?" Daraufhin sagte er: "Als noch die Maschine in der Luft gekreist ist, habe ich zu meiner Frau gesagt: "Wenn es gut ausgeht, melde ich mich mit ihr bei "Am laufenden Band" an."“ Woitkewitsch rief nach dem Gespräch sofort bei Carrell an und sagte ihm, dass sie das auf keinen Fall machen könnten. „Er meinte dann noch: "Bist du wahnsinnig? Das ist ein Coup, ein Coup!" Ich habe aber gesagt, wenn er das machen würde, würde ich aussteigen, und Tatsache: Er hat's nicht gemacht. Wir haben die Kandidaten eben ein paarmal auch vor sich selbst geschützt.“

Obwohl der Erfolg der Show ungebrochen war, wurde sie Ende 1979 nach 51 Ausgaben von Carrell eingestellt. „Er wollte eigentlich schon nach drei Jahren aufhören“, erzählt Woitkewitsch. „Aber da wurde er noch mit viel Mühe und wohl auch einigem Geld überredet, weiterzumachen.“ Nach fünfeinhalb Jahren war jedoch unwiderruflich Schluss. „Seine Einstellung war: "Nach einer gewissen Zeit werde ich müde und brauche frische Luft."“ Danach blieb er mit Woitkewitsch immer noch in losem Kontakt, hin und wieder rief er bei ihm an und bat ihn um einen Gag. Kurz vor seinem Krebstod 2006 schrieb er ihm eine letzte Mail. Sie endet mit den Worten: „Dein Freund Rudi.“ (dpa/sc)

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