Adieu, Eineinhalbstündige: Werden Filme immer länger?

<p>Rote Sessel stehen im Kinosaal in der Schauburg Gelsenkirchen.</p>
Rote Sessel stehen im Kinosaal in der Schauburg Gelsenkirchen. | Illustrationsbild: dpa

Die Spielfilmlänge scheint seit Jahren schleichend zuzunehmen – und das in einer Zeit, in der das jederzeit unterbrechbare Streaming und kurze Inhalte von Tiktok oder Instagram die Bewegtbildbranche revolutionieren. Eine insgesamt sechsstündige Streamingdienst-Serie ist für viele Leute wegen ihres andersartigen Erzählrhythmus - Stichwort Cliffhanger - ein Vergnügen. Die Aussicht, einen dreistündigen Film ansehen zu sollen, macht dagegen vielen Angst. Beim Kinobesuch oder Streaming heißt es heute meist: nix „Tatort“-Länge. Sondern: mehr als zwei Stunden Zeit nehmen.

Allein in diesem Jahr scheinen sich Monumentalfilme zu häufen. Man denke an „Oppenheimer“ (3 Stunden) oder „Indiana Jones und das Rad des Schicksals“ (2 Stunden und 34 Minuten). Sogar das Live-Action-Remake von „Arielle, die Meerjungfrau“ war fast eine Stunde länger als der Disney-Zeichentrickfilm von 1989. Für Oktober angekündigt ist Martin Scorseses dreieinhalbstündiges Epos „Killers of the Flower Moon“.

Im Januar kam „Babylon – Rausch der Ekstase“ ins Kino: Als Brad Pitt das Drehbuch dafür von Damien Chazelle erstmals las, umfasste es – eine Seite entspricht etwa einer Filmminute – 180 Seiten. Dem Magazin „W“ erzählte der Hollywoodstar: „Ich sagte: "Das ist ein Meisterwerk. Aber was wird herausgeschnitten?" Und er sagte: "Nichts".“

Das war womöglich ein Fehler, denn der „Rausch der Ekstase“ war an den Kinokassen trotz Brad Pitt und Margot Robbie („Barbie“) in den Hauptrollen ein Flop. Weltweit erzielte er nur etwa 63 Millionen US-Dollar. In Deutschland wurden nur etwa 220 000 Kinobesucher gezählt. Alles, was sich der Autor und Regisseur Chazelle (38) ausgedacht hatte, schien es in die endgültige Fassung geschafft zu haben, einschließlich der explosiven Eingeweide eines Elefanten.

Filmemacher Chazelle hat offensichtlich von Film zu Film weniger Lust, sich zu beschränken. Sein Musikfilmdrama „Whiplash“ (2014) zählte 106 Minuten, das Filmmusical „La La Land“ (2016) 128 Minuten, seine Neil-Armstrong-Filmbiografie „Aufbruch zum Mond“ (2018) 142 Minuten und sein „Babylon“ nun 181.

Ein Trend lässt sich auch bei Steven Spielberg erkennen, der schon immer eine Schwäche für besonders lange Filme hatte. In den 80ern hatten seine acht Kinofilme eine Durchschnittslänge von 123 Minuten, in den Zehnerjahren (2011 bis 2018) waren seine sieben Filme dann schon im Schnitt 131 Minuten lang. In den 2020ern aber dauerten seine bislang zwei Filme („West Side Story“ und „Die Fabelmans“) jeweils über zweieinhalb Stunden (157 und 151 Minuten).

Vor 20 Jahren (2003), als das mehr als dreistündige Epos „Der Herr der Ringe - Die Rückkehr des Königs“ meistbesuchter Kinofilm in Deutschland wurde, betrug die durchschnittliche Länge der hierzulande zehn erfolgreichsten Kinofilme (nach verkauften Tickets) 126 Minuten. Im vergangenen Jahr (2022) saßen Kinobesucherinnen und Kinobesucher im Schnitt sechs Minuten mehr im Saal bei den Top-10-Filmen.

Sicher, der Animationsfilm „Minions - Auf der Suche nach dem Mini-Boss“ (auf Platz zwei) dauerte lediglich 87 Minuten, doch er war in den Top Ten der einzige überhaupt unter 100 Minuten.

Dass alle Filme grundsätzlich länger werden, kann man so aber nicht sagen. So wertete zumindest der Datenwissenschaftler Przemysław Jarząbek vor rund fünf Jahren knapp 30.000 Filme von der IMDb-Datenbank nach ihrer Laufzeit aus und lieferte eine klare Antwort: Sie werden nicht grundsätzlich länger. „Die Unterschiede in der Länge sind zu gering, um wahrgenommen zu werden. Wir können sagen, dass die Filme in den letzten 60 Jahren im Durchschnitt die gleiche Länge gehabt haben. Egal, welche Kriterien man anlege, das Ergebnis ist immer dasselbe“.

Auf Filme namhafter Regisseure, Fortsetzungskino und eine Menge kommerzieller Hits der letzten Jahre scheint die These der länger werdenden Filme jedoch zuzutreffen. Das Magazin „Vanity Fair“ recherchierte kürzlich hinter den Kulissen Hollywoods und trug Gründe zusammen, warum Filme aktuell so lang geworden sein könnten.

So brauche die Branche nach ein paar düsteren Pandemiejahren wieder genug Menschen, die ins Kino gehen. Ein langer Film vermittle das Gefühl, dass ein Regisseur was zu sagen habe, dass der Film künstlerisch wertvoll sei (viele Oscar-Gewinner sind überlang).

Außerdem gebe es heute weniger mächtige und strenge Produzenten, die Filmemacher zur Ordnung riefen. Da die Liste der Filmkäufer – mit Netflix, Amazon, Apple und anderen neuen Playern im Film-Business – länger geworden ist, gebe es einen gewissen Druck bei den Studios, der Vision eines Regisseurs von zusätzlichen 15 oder 30 Minuten nicht zu widersprechen. „Wer möchte der Manager sein, der Nein zu Scorsese sagt und ihn an Netflix verliert?“, fasste „Vanity Fair“ zusammen.

Und: Ein ungenannter (langjähriger) Produzent vermutet, dass es während der Pandemie weniger Testvorführungen gab und damit weniger soziale Kontrolle: „Es gibt eigentlich nichts Besseres, um Ihnen zu sagen, dass Ihr Film zu lang ist, als auf ein Meer von Menschen zu schauen, die auf ihren Sitzen hin und her rutschen.“

Die Lust auf Länge scheint auch nicht auf Hollywood beschränkt zu sein und dessen Trend zum aufgeblasenen Actionkino. Auch hierzulande ist das Phänomen zu beobachten. Die Gewinner des Deutschen Filmpreises der vergangenen zehn Jahre dauerten im Schnitt 136 Minuten. In den zehn Jahren davor waren die mit der Goldenen Lola ausgezeichneten Werke rund 20 Minuten kürzer im Schnitt.

Nun ist natürlich nicht alles so eindeutig wie es manchmal scheint: Schon seit „Vom Winde verweht“ wird immer wieder gejammert, Filme seien zu lang. „Ben Hur“ Ende der 50er war fast vier Stunden lang, „Der Pate“ von Francis Ford Coppola Anfang der 70er fast drei, „Titanic“ von James Cameron in den 90ern dauerte über drei Stunden.

Ab den 50ern sah sich die Kinowirtschaft mit dem Fernsehen als Konkurrenz konfrontiert und versprach sich von längeren Filmen oder etwa dem Filmformat Cinemascope, ein Erlebnis zu schaffen, das die kleine Mattscheibe zu Haus nicht bieten konnte. Heute ist das Argument angesichts der Streamingdienste ähnlich: Wenn die Leute schon ihr Haus verließen und ins Kino gingen, müsse man ihnen etwas Bombastisches bieten, mehr Emotionen und ein größeres Erlebnis.

Nur zwischen 1970 und etwa 1985 sollen viele Blockbuster mal im Durchschnitt kürzer geworden sein, wie der Datenwissenschaftler Randal Olsen vor fast zehn Jahren feststellte und mutmaßte, dass dies mit der Zeitbegrenzung auf Videokassetten zusammenhing, auf denen Filme zweitverwertet werden können sollten.

Mit der Einführung von DVDs war die Laufzeit dann wieder nicht mehr so wichtig. Bei Leuten, die in den 80ern jung waren, könnte der Eindruck, dass Filme früher kürzer gewesen seien, also Gründe haben.

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