„Liebe Kitty...“: Vor 75 Jahren erschien Anne Franks Tagebuch

<p>Anne Frank wurde durch ihre Tagebuchaufzeichnungen bekannt.</p>
Anne Frank wurde durch ihre Tagebuchaufzeichnungen bekannt. | Foto: ANP/dpa

Anne Frank konnte nicht ahnen, dass sie ihren 16. Geburtstag nicht erleben würde - und dass sie mit ihrem Tagebuch unsterblich werden würde. Am 25. Juni 1947 erschien in den Niederlanden die erste, bearbeitete Fassung ihres Tagebuchs unter dem Titel „Het Achterhuis“ (Das Hinterhaus), 1950 folgten die französische und deutsche Übersetzung, 1952 die englischsprachigen Ausgaben in Großbritannien und den USA.

Generationen von Schülerinnen und Schülern in Deutschland verbinden das Tagebuch vermutlich mit der beim Frankfurter Fischer Verlag 1955 erstmals erschienenen Taschenbuchausgabe, die sie meist in der neunten oder zehnten Klasse gelesen haben. Seit damals wurden mehr als 4,6 Millionen Exemplare allein der Taschenbuchausgabe verkauft. „Das ist ein wirklich wahnsinnig erfolgreiches Buch, das sogar regelmäßig in Bestseller-Listen auftaucht und zu den sogenannten Longsellern des Verlags gehört“, sagt Alexander Roesler, Programmleiter Sachbuch der Fischer Verlage. Soeben ist eine Jubiläumsausgabe erschienen, deren Cover an das Original-Tagebuch erinnert.

Als Otto Frank als einziger Überlebender der Familie aus dem deutschen Vernichtungslager Auschwitz zurückkehrte und das von einer der Helferinnen in Sicherheit gebrachte Tagebuch las, erfuhr er erstmals, dass Anne das Tagebuch veröffentlichen wollte, um Zeugnis abzulegen. „Damals wollten alle nach vorne gucken und eben nicht erinnert werden, sondern die schreckliche Zeit vergessen“, meint Roesler. Der niederländische Verlag habe allerdings sofort gemerkt: „Das ist eine besondere Stimme, die hier spricht.“

In der Tat: Neugierig, aufmerksam, empathisch, mal träumerisch, mal kämpferisch zeigt sich Anne in ihren Briefen an die imaginäre Freundin Kitty. „Wir erhalten, natürlich aus ihrer Perspektive, einen sehr guten Eindruck davon, was es für die Menschen bedeutet, auf so engem Raum zusammenleben zu müssen. Zum anderen ist sie ein normaler Teenager, eine junge Frau mitten in der Pubertät, die völlig unvorbereitet ist, auf das, was ihr da widerfährt“, sagt Sascha Feuchert, Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus Liebig-Universität Gießen. „Anne Frank war ein riesiges literarisches Talent, und das in einem sehr jungen Alter.“ Nachdenklich klingt etwa einer der letzten Einträge aus dem Juli 1944: „Ich sehe, wie die Welt langsam immer mehr in eine Wüste verwandelt wird, ich höre den anrollenden Donner immer lauter, ich fühle das Leid von Millionen Menschen mit.“

Allerdings: Ein Tagebuch ist immer etwas sehr Persönliches - das stellte Otto Frank auch vor Herausforderungen, gibt es doch etwa Stellen, in denen Anne über die Konflikte mit ihrer Mutter schreibt, über ihren Blick auf die Ehe der Eltern. „Das sind Stellen, die er in der (veröffentlichten) Ausgabe eher weggelassen hat“, sagt Roesler. Zudem schreibe Anne recht offen über ihre körperliche Entwicklung, die Liebe zu ihrem Mitbewohner Peter - das wurde gerade in den 50er Jahren noch anders gesehen als heute. „Jetzt, wo die ursprünglich herausgestrichenen Passagen wieder im Buch enthalten sind, ist das Buch ‘authentischer’“. „Dass der Text früh auch in Deutschland ein Erfolg wurde, hat ein Stück weit damit zu tun, dass Anne damals zu einem allgemeinen Opfer des Krieges stilisiert wurde, die Täter wurden fast vollständig ausgeblendet“, sagt Feuchert. In der ersten Übersetzung sei etwa nicht von Deutschen, sondern von Nazis die Rede gewesen. „Darüber hinaus gibt Annes Tagebuch zwar sicher Einblick in eine sehr schlimme Situation, aber es bricht dort ab, wo der eigentliche Holocaust beginnt, nämlich vor der Deportation in die Vernichtungslager.“

Zugleich gibt Anne Frank den Opfern ein Gesicht, meint Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt. „Die Geschichte von Anne Frank und ihrer Familie steht stellvertretend für die Geschichte von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die im Nationalsozialismus ermordet wurden. Sie zeigt uns, wohin Antisemitismus als eine Ideologie der Ungleichwertigkeit führen kann, nämlich zu Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung.“ Seit der ersten Veröffentlichung habe sich der Blick auf Anne Frank verändert, so Feuchert. „Die ‘Ikonisierung’ von Anne Frank überlagert manches Mal den wirklichen Menschen, der auch voller Widersprüche war.“ Dabei seien gerade die Ecken und Kanten der jungen Frau der Anknüpfungspunkt für junge Leser heute: „Anne Frank ist mit ihren Problemen, den Auseinandersetzungen mit der Mutter, dem ersten Verliebtsein ganz nahe auch an heutigen Teenagern.“

„Für Jugendliche bietet Anne, der Teenager, ein enormes Identifikationspotenzial und einen Zugang für die Auseinandersetzung mit Konflikten der Gegenwart“, sagt auch Mendel. „In ihrem Tagebuch beschäftigt sie sich mit Antisemitismus und verschiedenen Formen der Ausgrenzung, mit Fragen nach Krieg und Frieden, nach einer besseren Welt, mit Menschenrechten und Demokratie. Diese Themen sind für Jugendliche heute auch aktuell – zumal in einer Zeit, in der wieder ein Krieg in Europa stattfindet.“

Der Pädagoge betont, Anne Franks Kampfgeist und die humanistische Botschaft ihres Tagebuchs inspirierten Kinder und Jugendliche, die sich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung empören genauso wie Erwachsene, die dem erstarkenden Rechtspopulismus etwas entgegensetzen wollten.

Wie sehr das Schicksal Anne Franks und ihrer Familie noch immer bewegt, zeigt auch die Kontroverse um die „Cold Case“-Ermittlungen zur Entdeckung der Untergetauchten. Ein früherer FBI-Ermittler kam Anfang des Jahres zu dem Schluss, ein jüdischer Notar habe das Versteck „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ verraten. Nach vielfacher Kritik setzte der niederländische Verlag des Buches über diese Nachforschungen den Druck zunächst aus. Mendel sieht in der emotional geführten Debatte auch Chancen: Sie öffne den Raum „für eine Auseinandersetzung mit Täterschaft, Mitläufertum, Widerstand und jüdischer Kollaboration im Nationalsozialismus. Auch über diese schwierigen Themen lässt sich anhand der Geschichte von Anne Frank mit Jugendlichen ins Gespräch kommen, um ihnen ein Verständnis des NS als umfassendem Unrechtssystem zu vermitteln.“

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