Religionspädagogen kritisieren Weykmans: Bild des Religionsunterrichts entbehrt jeder Kenntnis

<p>Marie Meyer (katholische Religionslehrerin) und Prof. Dr. Guido Meyer (Religionspädagoge, RWTH Aachen)</p>
Marie Meyer (katholische Religionslehrerin) und Prof. Dr. Guido Meyer (Religionspädagoge, RWTH Aachen) | Fotos: privat
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Kommentare

  • Es hätte sich eigentlich gehört, dass die Medien etwas mehr Hintergrundinformation geliefert hätten, um den "Gastkommentar" oder die "private Meinung" von Frau Weyckmans zu relativieren.

    Dazu hätte Artikel 24 der belgischen Verfassung, der wohl auch in "Ostbelgien" Gültigkeit hat und über jedem Dekret steht, das die Deutschsprachige Gemeinschaft zu diesem Thema erlassen könnte:

    "§ 1 - Das Unterrichtswesen ist frei; jede präventive Maßnahme ist verboten; die Ahndung der Delikte wird nur durch Gesetz oder Dekret geregelt.
    Die Gemeinschaft gewährleistet die Wahlfreiheit der Eltern.
    Die Gemeinschaft organisiert ein Unterrichtswesen, das neutral ist. Die Neutralität beinhaltet insbesondere die Achtung der philosophischen, ideologischen oder religiösen Auffassungen der Eltern und Schüler.
    Die von den öffentlichen Behörden organisierten Schulen bieten bis zum Ende der Schulpflicht die Wahl zwischen dem Unterricht in einer der anerkannten Religionen und demjenigen in nichtkonfessioneller Sittenlehre.
    [...]
    § 3 - [...]. Alle schulpflichtigen Schüler haben zu Lasten der Gemeinschaft ein Recht auf eine moralische oder religiöse Erziehung."

    Selbst wenn sie es wollte, könnte die Regierung in Eupen diese Bestimmungen nicht aushebeln. Das ginge nur über eine Änderung der Verfassung. Frau Weyckmans müsste das eigentlich wissen, wenn sie fordert: "Deshalb schlage ich vor, den getrennten Religionsunterricht in seiner jetzigen Form durch einen gemeinsamen Werte- und Bürgerkundeunterricht zu ersetzen.".

    Auch muss man betonen, dass diese Bestimmung der freien Wahl der Religions- oder Morallehre nur für das offizielle Schulwesen gilt. Konfessionell orientierte Schulen - also vor allem katholische, aber auch z.B. jüdische in Antwerpen oder islamische in Brüssel - sind also weder verpflichtet, diese Wahlfreiheit zu garantieren, noch könnten sie von der Regierung gezwungen werden, die Vermittlung ihrer Glaubensinhalte zu unterlassen oder einzuschränken.

    Ein Punkt, der für eine Änderung spräche, ist ein rein praktischer, der sicher auch in Orten wie Eupen und Kelmis relevant sein dürfte, weniger vielleicht in rein ländlcihen Gebieten, dafür aber umso mehr in den grösseren Städten des Landes.
    In den Schulen dort gibt es ein "buntes" Gemisch an Religionszugehörigkeiten. Eine Freundin von uns war Leiterin einer Volksschule in Verviers.
    Dort gab es katholische, protestantische, orthodoxe, muslimische und nichtkonfessionelle Schüler. Für jede Richtung zwei Unterrichtsstunden(*) pro Woche zu organisieren, ohne die Stundenpläne für die anderen Fächer komplett durcheinanderzubringen, war schon ein "casse-tête", da ja nicht alle Religionslehrer zur gleichen Zeit anwesend waren und manches Angebot klassenübergreifend sein musste. Allein für drei (!) Geschwister einer orthodoxen Familie kam zwei Mal die Woche ein Pope aus Lüttich vorbei.
    Oh du heilige Wahlfreiheit, konnte man da nur seufzen.

    (*) Inzwischen nur mehr eine Stunde. Die andere wurde durch einen "cours d’éducation à la philosophie et à la citoyenneté" ersetzt. Das könnte, rechtlich einwandfrei, auch in der DG "Schule machen".
    https://ligue-enseignement.be/philosophie-et-citoyennete-a-lecole-de-la-...

    Für Interessierte: https://www.cairn.info/revue-courrier-hebdomadaire-du-crisp-2012-15-page...
    Schon etwas älter (2012) und nur auf Französisch, aber sehr detailliert.

  • Die zum Teil heftigen und z.T. unter die Gürtellinie reichenden Reaktionen und Anfeindungen von Glaubensaposteln gegenüber Frau Weykmans waren zu erwarten.
    Dass sich jedoch Religionspädagogen genötigt sehen, aus der Hüfte den Vorschlag der Ministerin zu torpedieren zu müssen, deutet viel mehr auf Dünnhäutigkeit und Verunsicherung, als auf selbstbewusste Verteidigung ihrer Institution.

    Ich bin der Überzeugung, dass alle (!) Minister der Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft dem Vorschlag von Frau Weykmans zustimmen würden, wenn sie ihre Meinung in dieser zugegeben sensiblen Frage, unabhängig von machtpolitischen Erwägungen äußern könnten.

    In einem säkularen und von der Grundidee seiner Verfassung laizistischen Staat ist es im 21 . Jahrhundert tatsächlich ein Unding, dass der Staat über Inhalt und Methode des Religionsunterrichtes an staatlichen Schulen keinerlei Kontrolle hat.
    Offensichtlich haben auch die Religionspädagogen keinerlei Ahnung, welch’ hanebüchener Unsinn z.B. im Islamunterricht (und nicht nur dort) an hiesigen Schulen unterrichtet wird.

    Vor etwas mehr als 2 Jahren haben 2 Religions-Inspektoren (!) in der französischen Gemeinschaft nachdrücklich darauf hingewiesen, das es einer grundlegenden Reform des Religionsunterrichtes bedarf, weg von einem konfessionsgebundenen Bekenntnisunterricht, hin zu einem konfessionsübergreifenden neutralen Religionskunde-, Philosophie-und Ethikunterricht, an dem verpflichtend alle SchülerInnen gleich welcher Konfession teilnehmen sollten.

    Was genau spricht eigentlich dagegen, wenn man einmal von vorgeschobenen Zuständigkeitsargumenten absieht?
    Was spricht dagegen, SchülerInnen gemeinsam und nicht nach Konfessionen getrennt, mit Fragen zu konfrontieren, die letztlich nur das Ziel verfolgen können, sie zu selbstbestimmten, selbstdenkenden, ja selbstglaubenden Menschen zu erziehen?

    Wie viele andere Kritiker haben auch die beiden Religionspädagogen den Denkanstoß der Ministerin falsch verstanden bzw. verstehen wollen.
    Es geht nicht darum, den Religionsunterricht gänzlich aus den Schulen zu verbannen (und auch nicht darum, ihn aus der Gesellschaft zu verbannen) sondern ihn zu reformieren und auch (!) organisatorischen Notwendigkeiten anzupassen.

    Offensichtlich haben auch die Pädagogen keine Kenntniss davon, wie schwierig oder bisweilen unmöglich es mittlerweile ist, den Erfordernissen einer unzeitgemäßen Gesetzgebung gerecht zu werden und den Bekenntnis-Religionsunterricht an Schulen rein organisatorisch zu stemmen.

    Die „Glaubenshüter“ verhalten sich bei ihrem überhasteten Versuch, den konstruktiven Denkanstoß einer Ministerin zu torpedieren genau so, wie sie ihren allwissenden, allmächtigen und alleinseeligmachenden Gott und seine irdische Institution schon immer verteidigt haben: durch reaktionäres Geheule und Getue.

    Der Bogen ist zugegeben weit gespannt, aber er reicht ununterbrochen von Galileo Galilei
    bis ... Isabelle Weykmanns.
    Es ging immer auch um Denkverbote. „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“

    Herr Meyer und Frau Meyer erweisen ihrer in den letzten Jahren ohnehin arg gebeutelten Konfession einen Bärendienst.
    Nicht durch Festklammern an reformbedürftigen Strukturen lässt sich in einer aufgeklärten Gesellschaft die kontinuierlich Erosion des Glaubensgebäudes aufhalten, sondern - wenn überhaupt - durch eine mutige und offene Bereitschaft, notwendige und längst überfällige Reformen zu vollziehen. Ob Zölibat oder ...Religionsunterricht.

    Dazu fehlt es in Rom und scheinbar auch in der DG an Mut, Weitsicht und bisweilen auch intellektueller Redlichkeit.

  • Hallo Herr Schleck,
    Sie haben mit ihren Ausführungen und dem Hinweis auf die Verfassung selbstverständlich Recht. Aber auch eine Verfassung und ein verstaubter Schulpakt sind nicht in Stein gemeißelt und müssen sich an gesellschaftlichen Entwicklungen bzw. Erfordernissen messen lassen und wenn notwendig abgeändert werden.
    Wenn nicht jemand den ersten Schritt tut, geschieht nie etwas.
    Danke für die Lektüre-Links.
    Interessant ist auch das Buch von Jean-Philippe Schreiber, „La Belgique, Etat laïque... ou presque - Du principe à la réalité.“ (Espace de libertés)
    Eigentlich eine Pflichtlektüre für jeden ... Minister.

  • Wenn das Bild der Religionen scheinbar jeglicher Kenntnis entbehrt, dann entbehrt sich die überprivilegierte Stellung von Religion in unserer Gesellschaft allerdings auch jeglicher Berechtigung, und dies nicht nur scheinbar: Die Studie "Europe’s Young Adults and Religion" der Saint Mary's University in London (Ironie lässt grüßen) besagt, dass sich in den meisten europäischen Ländern die Mehrheit der jungen Menschen (16 bis 29 Jahre) keiner einzigen Religion zugehörig f¨ühlen, also weder Christentum, noch Islam, noch Judentum, noch Spaghettimonster...! Die Mehrheit der jugen Menschen glaubt nicht - und das ist gut so! Denn sie versucht, stattdessen zu wissen.

    Weiter Zahlen aus der Studie: In Belgien fühlen sich 65% der jungen Menschen keiner Religion zugehörig, und nur 2% derjenigen, die sich als junge "Christen" bezeichnen gehen in die Messe, 63% beten nie außerhalb der Messe.

    Auf finanzieller Ebene streicht die katholische Kirche in Belgien über 80% (458 Millionen Euro!) der öffentlichen Gelder ein, stellt aber nur knapp 40% der Bevölkerung dar... (Quelle: Wikipedia)

    Abgesehen von der dahinschwindenden gesellschaftlichen Akzeptanz von Religionen als "Wertesystem", das durchaus fraglich ist, wenn man bedenkt, dass die katholische Kirche beispielsweise Homosexualität noch immer als "objektiv untergeordnet", als "moralische Unordnung", als "schwerwiegende Störung der sittlichen Ordnung" oder gar als "vollendete widernatürliche Unzucht" erachtet, und Frauen als Bürger zweiter Klasse behandelt, indem sie diese bevormundet und sich das Recht über ihren Körper aneignen will, sollen unsere Kindern von solchen Menschen "Werte" vermittelt bekommen? Von einer Institution, die es sich schwer tut, unzählige Sittentäter in den eigenen Rängen zur Rechenschaft zu siehen und diese sogar der "weltlichen" Justiz entzieht und schützt?

    Wollen wir, dass unsere Kinder sich dem Dogma eines absolutistischen Religionsstaats "Vatikan" (Saudi-Arabien, Quatar, usw. lassen grüßen) beugen, der als einer der wenigen Staaten der Erde, noch immer nicht die Internationale Menschenrechtscharta und zugehörige Menschenrechtskonventionen unterzeichnet geschweige denn ratifiziert hat?

    Und schlussendlich: Können wir unsere Kinder einer Institution anvertrauen, die Pädophile schützt?

  • Herr Leonard, natürlich sind die Verfassung und normale Gesetze nicht in Stein gemeißelt und können in einer Demokratie durchaus verändert werden. Wir hier in Belgien haben darin reichlich Erfahrung mit unseren bisher sechs Staatsreformen.

    Allerdings sind die Hürden für eine Verfassungsreform sehr hoch, und bis jetzt hat keine Partei erkennen lassen, dass sie dieses noch immer heiße Eisen anfassen möchte, den Artikel 24 zu reformieren oder abzuschaffen. Ich sehe auch nicht, dass das sich in Zukunft ändern könnte. Da sind die jeweiligen Kompetenzverlagerungen den Politikern bedeutend wichtiger.

    Von dieser Sachlage hätte Frau Weyckmans aber ausgehen müssen, wenn sie schreibt: „Deshalb schlage ich vor, den getrennten Religionsunterricht in seiner jetzigen Form durch einen gemeinsamen Werte- und Bürgerkundeunterricht zu ersetzen."

    Da suggeriert sie, das sei ganz einfach zu bewerkstelligen durch ein Dekret im PDG. Das ist es nicht. Sollte die DG ein solches verabschieden, so würde der Verfassungsgerichtshof es bei der ersten Klage sofort annullieren. Dass Frau Weyckmans diese Fakten zu ignorieren scheint, spricht nicht für eine profunde Sachkenntnis.

    Inzwischen hat übrigens ihr Kollege Mollers die Dinge in einer Stellungnahme klar und deutlich zurechtgerückt: https://64dd9c14-2bff-4053-b0f6-1b4403b2d86b.filesusr.com/ugd/fe9a73_b32...

    Eine schallende Ohrfeige, diplomatisch verklausuliert.

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