Karneval in Aalst: Satire ist wichtig, muss aber mit Bedacht gewählt sein

<p>Satire oder schlechter Geschmack? Die Meinungen über den Karneval von Aalst gehen auseinander, unter anderem wegen der klischeehaften Darstellung von orthodoxen Juden.</p>
Satire oder schlechter Geschmack? Die Meinungen über den Karneval von Aalst gehen auseinander, unter anderem wegen der klischeehaften Darstellung von orthodoxen Juden. | Foto: Photo News

Viele Medienvertreter aus dem Ausland, internationale Reaktionen, eine Stellungnahme der Premierministerin und Thema auf nahezu allen Titelseiten der Zeitungen: Eine PR-Agentur wäre bestimmt an der Aufgabe gescheitert, so viel Aufmerksamkeit für den Karneval von Aalst zu erregen. Der traditionsreiche Umzug in der ostflämischen Stadt stand am Sonntag unter besonderer Beobachtung, nachdem im vergangenen Jahr judenfeindliche Klischees zur Schau gestellt worden waren.

Trotz aller Kritik, Bitten und Warnungen im Vorfeld waren auch jetzt wieder Karikaturen orthodoxer Juden inmitten von Goldbarren zu sehen sowie als orthodoxe Juden verkleidete Teilnehmer. Die Unesco wurde am Sonntag ebenfalls auf die Schippe genommen, nachdem diese den Straßenkarneval in Aalst wegen der Debatte im letzten Jahr um Antisemitismus von der Liste des immateriellen Kulturerbes gestrichen hatte.

„Aalst gegen den Rest der Welt“, titelte die flämische Zeitung „De Morgen“ am Tag danach. Die dortigen Karnevalisten lassen sich nur ungern etwas vorschreiben und haben darauf verzichtet, sich selbst zu zensieren. Diese eigenwillige Einstellung ist nicht nur sympathisch, sondern grundsätzlich richtig. Karneval und Satire gehören zusammen. Und Satire darf auch, was nicht gefällt. Satire darf übertreiben, gemein sein, verletzen und den Finger in die Wunde legen, um Zustände und Ereignisse anzuprangern oder lächerlich zu machen. Das ist ein hohes Gut der Meinungsfreiheit, für die Menschen viele Jahrhunderte gekämpft haben. Eine Meinungsfreiheit, die nach den Anschlägen auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ vor fünf Jahren und in Zeiten der Trumps, Putins und Erdogans wieder in Gefahr geraten ist.

Wie wir Satire wahrnehmen, ist subjektiv: Man kann darüber lachen, streiten oder vor Gericht ziehen. Aber man kann dafür nicht zu Gewalt oder Mord aufrufen. Genau deshalb muss die Satire ihr Ziel mit Bedacht wählen. Diese Sensibilität haben die Karnevalisten in Aalst allerdings vermissen lassen. Sie wollten gar nichts anprangern, sondern auf plumpe Art und Weise verletzen oder Aufmerksamkeit erregen. Ende Januar wurde in aller Welt der systematischen Judenermordung der Nationalsozialisten gedacht. Ein paar Wochen später beim Karneval antijüdische Klischees zur Schau zu stellen, zeugt nicht nur von fehlendem Geschichtsbewusstsein, sondern auch von schlechtem Geschmack.

Kommentare

  • Hervorragender Kommentar!

    Aber:
    Was bliebe vom Karneval übrig wenn alle satirisch überspitzten Darstellungen der politischen Correctnes zum Opfer fielen?

    Sind die karikaturhaften "Judendarstellungen" wirklich judenfeindlich oder wird damit den streng orthodoxen Juden vielleicht nur ein Spiegel vorgehalten?

    Ist nicht genau das Sinn und Zweck des Karnevals?

    Was unterscheidet die satirische Darstellung des Propheten Mohamed von diesen Figuren? Was die seit 2 Jahrzehnten betriebene beißende Religionskritik in Form satirischer Zeichnungen in Charlie Hebdo, der wir vor 5 Jahren doch alle sein wollten.

    Vielleicht würde es dem Ansehen der von der Gesellschaft abgeschotteten, in ihrer religiösen Blase lebenden, streng orthodoxen jüdischen Glaubensgemeinschaften (und nicht nur dieser) gut tun, auch einmal über sich selbst zu lachen?

    Die beste Antwort orthodoxer Juden wäre es wohl gewesen, sich in den Aalster Zug einzureihen und zu demonstrieren, dass alle Klischeebilder falsch sind.
    Ich befürchte, sie sind es nicht.

    Dies gilt auch für Muslime im Umgang mit ihrem unantastbaren Propheten.

    Ok, ich träume.

    Wenn wir aus falscher Rücksichtnahme stets die Schere in unseren Köpfen bereit halten, geben wir das preis, was uns von religiösen oder politischen Diktaturen unterscheidet.

    Die karnevalistische Parodie muss nicht alles auf die Goldwaage legen und Juden selbst wären gut beraten sich dagegen zu wehren, dass sie nur noch über den Holocaust definiert werden und man sie in vorauseilender Rücksichtnahme in Watte packt.

    Gefahr für die jüdische Gemeinschaft drohen nicht von unbeugsamen Aalster Karnevalisten sondern vom aus der christlichen (!) Religion und seinem reformistischen Zweig abgeleiteten Antisemitismus, dem sich rechte bis faschistische Aufwiegler bedient haben und immer noch bedienen.
    Und dazu gesellt sich ein offener islamischer Judenhass.

    Der besorgte Blick sollte sich in erster Linie dorthin wenden, nicht nach Aalst.

  • Herr Leonard hat das Hohelied der Meinungsfreiheit gesungen und die "unbeugsamen" Aalster Karnevalisten dafür gelobt, dass sie den orthodoxen Juden mal so richtig den Spiegel vorgehalten haben.

    Nun kann man sich fragen, warum es „lustig“ sein sollte, sich so gehässig („Satire und Spott“) an einer Minderheit abzuarbeiten, die als Volk wie kein anderes durch uns Christen während zwei Jahrtausenden drangsaliert wurde und ganz besonders im vorigen Jahrhundert bis an den Rand der physischen Ausrottung gebracht wurde.

    In Belgien gibt es so an die 30.000 Juden, vor allem in Brüssel und Antwerpen. Von denen sind vielleicht 2.000 Orthodoxe mit schwarzem Mantel, Hut, Schläfenlocken und Bart, die in unseren Augen absonderliche Riten pflegen. Eine Minderheit in der Minderheit also. Bis jetzt haben diese Leute meines Wissens nach noch niemandem hier Schaden zugefügt.

    Nun ja, sich als orthodoxer Jude zu verkleiden, könnte man noch als Karnevalsspaß abtun, wäre da nicht der Kontext.
    Warum haben die Aalster Karnevalisten diese orthodoxen Juden als Zielscheibe ihres Spottes gewählt?

    Doch wohl, um die „Juden an sich“ darzustellen: Vor einem Geldschrank, auf Geldsäcken sitzend, eine Ratte (!) auf der Schulter, die Hände begehrlich ausgestreckt, das ist der schon von den Nazis im Kölner Karneval karikierte Jude, der zuerst als Billiger Jakob den gutgläubigen Hausfrauen seinen Tand andreht, dann als Pferdehändler den Bauern übers Ohr haut und zuletzt als scheinbar integrierter dicker Banker brave Bürger und Geschäftsleute durch Wucherkredite in den Ruin treibt. Auch heute noch, in abgewandelter Form natürlich.

    Was sollte es denn sonst bedeuten? Oder haben die Aalster sich „nichts dabei gedacht“? Sinnfreie Karikaturen, von Hohlköpfen gemacht?

    Die Maskerade in diesem Jahr war allerdings nur ein billiger Abklatsch, ein Stinkefinger an die UNESCO, an die Juden selber, sogar an den Parteichef des Aalster Bürgermeisters, der schon 2019 unverhohlen seine Kritik geäußert hat.

    Heute haben solche Klischees wieder Konjunktur, wenn sie überhaupt je weg waren: „De Jödd hat t’Jelt, de rejeert d’Welt“ kann man auch in Ostbelgien hören. Selbst Herr Leonard "befürchtet", dass solche Klischees "nicht falsch" sein könnten.

    Auch in Belgien steigt die Zahl antisemitischen Übergriffe, nicht nur durch Islamisten. Der "besorgte Blick" sollte sich gegen jede Form von Antisemitismus wenden, auch nach Aalst. „Wehret den Anfängen“ heißt es heute in einem Leserbrief hier im GE.

  • „Offener Meinungsaustausch ist das Fundament politischer und geistiger Freiheit und schließt die Kritik an religiösen Inhalten und Institutionen mit ein.„

    Auch religiöse Glaubensgemeinschaften wie die ultraorthodoxen Juden sind trotz ihrer eigenen und der Geschichte des jüdischen Volkes davon nicht ausgenommen.
    Wenn jegliche Kritik daran oder z.B. an der Politik Israels als Antisemitismus verstanden wird, müssen wir unser Verständnis über die Grundlagen unserer freiheitlichen Gesellschaft überdenken.

    Auch hier gilt dann jedoch:
    „Wehret den Anfängen“

    Kann sein, dass ich die Tragweite der Darstellung ultraorthodoxer Juden und vor allem der Motivation dafür im Aalster Karneval falsch einschätze. Wenn das gesamte jüdische Volk gemeint und Antisemitismus die Triebfeder ist, liege ich ohne Frage falsch.

    Eine kritische Auseinandersetzung mit einer Glaubensgemeinschaft, die jeglichem weltlichen Wissen ablehnend gegenübersteht, in selbstgewählter gesellschaftlicher Isolation und ableitend davon oftmals in erbärmlichen Umständen lebt, muss erlaubt sein.
    Auch z.B. die Frage, welche Chancen die indoktrinierten Kinder dieser Gemeinschaft haben.

    Religiöser Fanatismus ist nicht nur dann schädlich, wenn Flugzeuge in Hochhäuser rasen.

  • Nachtrag zum Thema "Klischeebilder":

    Es ist - wie angemerkt - angesichts der Geschichte des jüdischen Volkes und auch 80 Jahre nach dem Holocaust kaum möglich, sich kritisch mit dieser Geschichte, der Religion und auch nur eingeschränkt, mit der Politik Israels auseinanderzusetzen, ohne Gefahr zu laufen, als Antisemit abgestempelt zu werden.
    Auch hier schlägt die Polical Correctnes-Keule in vorauseilendem Verteidigungsreflex unmittelbar zu.
    Sei's drum.

    Ja, Herr Schleck, es gibt Klischeebilder, die - nicht nur was das äußere Erscheinungsbild und das Brauchtum von ultraorthodoxen Juden betrifft - bestätigt werden.

    Laut einer Umfrage von 2018 sind 56 % der Israelis der Meinung, dass die Juden das von Gott "auserwählte Volk" sind. Unter den politisch rechts orientierten sind es gar 79%.

    Das gezeichnete und gepflegte Bild des "auserwählten Volkes" hat dessen Wahrnehmung lange geprägt und gehört heute offensichtlich immer noch zu ihrem Selbstverständnis.

    Außer Kritik und - ja - auch karnevalistischem Spott, rechtfertigt dies weder Antisemitismus, noch Ausgrenzung, geschweige denn Übergriffe.
    Es zeigt aber auf, zu welcher Außenwirkung religiöser Aberglaube führt.

    Der Kolumnist der linksliberalen israelischen Tageszeitung Haaretz, Gideon Levy, meint dazu:
    "Die israelischen Juden, die denken, dass sie zu einem ganz speziellen, auserwählten Volk gehören, schulden sich selbst und anderen in diesem Punkt Rechenschaft. Es ist einfach zu erklären, dass Gott existiert oder nicht existiert. Niemand erwartet da Beweise. Aber wenn die Mehrheit einer Nation überzeugt ist, dass ihre Nation allen anderen Nationen überlegen ist, sind einige Beweise notwendig. Im Falle Israels ist es allerdings leicht zu erkennen, dass es sich um einen Fall von Realitätsverlust handelt – um eine gefährliche Illusion. Denn ein Volk, das davon überzeugt ist, dass es von Gott auserwählt ist, stellt eine Gefahr dar, eine Gefahr für sich selbst und auch eine Gefahr für seine Umgebung."

    Hier der vollständige Artikel:
    https://www.infosperber.ch/Politik/Israel-Juden-Umfrage-auserwahltes-Volk

    Gruß und schönes WE

  • Ja, Herr Leonard, dass vor allem die Deutschen (wir auch?) ein gestörtes Verhältnis zu den Juden und zum Staat Israel haben, stimmt. Wer sich auch nur ein bisschen mit dem Schicksal dieses Volkes besonders im 20. Jh. befasst hat, wird verstehen, warum das so ist.

    Ich bin gerade erst in der Lütticher Bibliothek Chiroux zufällig auf ein Buch von Patrick Desbois gestoßen „La Shoah par balles“. Klappentext: „Deutsche Truppen und ihre Helfershelfer haben auf dem Territorium der UdSSR mehr als zwei Millionen Juden erschossen.“ Eine unvorstellbare Zahl. Männer, Frauen, Alte, Kinder, Säuglinge.

    Wer hat nicht noch die Bilder der Befreiung des KZs von Auschwitz vor 75 Jahren vor Augen? Wer einmal ein KZ besucht hat, und sei es nur das relativ unbedeutende von Struthof im Elsass, wird die Atmosphäre dort nicht mehr vergessen.

    Zwar lebt von dieser Generation kaum mehr einer, aber die Nachfahren sind noch da. Wenn sie nun sehen müssen, wie in Aalst die Karikaturen wiederkehren, die einst das Terrain für die physische Vernichtung ihrer Eltern oder Großeltern bereitet haben, was für Gefühle mögen sie wohl haben? Zumal dort auch schon feixende „Karnevalisten“ in Uniformen der SS-Totenkopfverbände und der Waffen-SS zu sehen waren.

    „Offener Meinungsaustausch ist das Fundament politischer und geistiger Freiheit und schließt die Kritik an religiösen Inhalten und Institutionen mit ein“ So schreiben Sie völlig zu Recht. Aber wo sind hier dieser offene Meinungsaustausch und diese Kritik an Inhalten und Institutionen auf Seiten der "Karnevalisten"? Ich sehe sie nirgends.

    Niemand hat bis jetzt erklären können, welchen Sinn diese Karikaturen denn nun haben sollten, außer dem augenfälligen: „Ja, so sind sie, diese Juden, fiese Gesichter mit seltsamen Hüten und Frisuren, geldgierig, wie die Ratten und Ameisen, beklagen sich auch noch wehleidig an einer Klagemauer aus Goldbarren.“

    Dass diese Klischees nun eine heilsame Wirkung auf die orthodoxen Antwerpener Juden ausüben sollten, glaubt wohl keiner ernsthaft. Die Juden gar aufzufordern, sich in diesen Zug einzureihen, um zu zeigen, dass sie Humor haben, zeugt leider von wenig Fingerspitzengefühl.

    Dass es nicht möglich ist, etwa die Politik Israels zu kritisieren, stimmt nicht. So stößt die Siedlungspolitik Netanjahus durchaus auf Kritik … sogar bei CDU und FDP, … aber nicht bei der Administration Trump!
    Sogar das hier ist möglich:
    https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/israel-besuch-angela-merkel-...

    Es gibt selbst ultraorthodoxe Juden, die die ganze zionistische Bewegung und den Staat Israel ablehnen und die Netanjahu absprechen, ein wahrer Jude zu sein:
    https://www.deutschlandfunkkultur.de/ultra-orthodoxe-gegen-den-staat-isr...

    Was nun die orthodoxen Juden hier in Belgien angeht, so gibt folgender Artikel ein etwas differenzierteres Bild als ein paar Karnevalsfiguren:
    http://www.o-re-la.org/index.php/analyses/item/2126-la-communaute-hassid...
    Er stammt vom Observatoire des Religions et de la Laîcité an der ULB und kann wohl kaum als religiös voreingenommen bezeichnet werden.

    Wer gerne lacht, sollte sich den Film „Les Aventures de Rabbi Jacob“ mit Louis de Funès ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=P3q5kXKNe6c

    Ein Gag jagt den anderen, Vorurteile auf allen Seiten, aber mit einem Augenzwinkern entlarvt. Eine Schlüsselszene am Anfang geht aber über das Burleske hinaus. Nachdem sie gerade Zeugen einer gemischt schwarzweißen Hochzeit geworden sind, lässt der typische (Klischee!) Bourgeois Pivert (Funès) allerlei abfällige Bemerkungen los. Sein Chauffeur Salomon fragt ihn, ob er nicht ein wenig rassistisch sei, worauf er völlig fassungslos antwortet: „Moi, raciste?“ Als sein Chauffeur ihm nun eröffnet, dass er Jude sei, fällt Pivert aus allen Wolken, ringt sich aber am Ende durch zu einem: „Bah, je vous garde quand-même.“. Gute Unterhaltung!

    Entschuldigung für die Überlänge, aber es steht jetzt 3:2 bei der Zahl an Beiträgen.

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