Sophie Wilmès schreibt Geschichte

Sie stand schon seit Wochen in der Pole-Position: Sophie Wilmès ist am Wochenende vom Kernkabinett der geschäftsführenden Minderheitsregierung (38 von insgesamt 150 Sitzen in der Kammer) zur Nachfolgerin von MR-Parteikollege Charles Michel auserwählt und anschließend von König Philippe ernannt worden. Michel hatte Ende vergangener Woche angekündigt, dass er sich ab November auf seine neue Arbeit als Präsident des Europäischen Rates vorbereiten möchte. Der 43 Jährige aus Namur wird am 1. Dezember Nachfolger des Polen Donald Tusk.

Sophie Wilmès hat eine beeindruckende Karriere hinter sich. Es ist erst vier Jahre her, als sie zum ersten Mal ein Ministeramt erhielt. Die 44-Jährige aus der Brüsseler Gemeinde Ixelles war als Ersatzkandidatin für Didier Reynders in die föderale Abgeordnetenkammer gewählt worden und übernahm 2015 das Amt der Haushaltsministerin von Hervé Jamar (wurde Gouverneur der Provinz Lüttich).

Wilmès studierte angewandte Kommunikation, Werbung und Marketing an der IHECS in Brüssel. Nach ihrem Studium arbeitete sie zunächst bei der Europäischen Kommission, wo sie als Finanzmanagerin für Projekte im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und der europäischen Erweiterung tätig war.

Im September 2005 wurde Wilmès Wirtschafts- und Finanzberaterin einer auf Gesellschaftsrecht spezialisierten Anwaltskanzlei. Zwei Jahre später kündigte sie, weil sie in Sint-Genesius-Rode, einer Fazilitäten-Gemeinde in der Provinz Flämisch-Brabant, ein Schöffenamt antrat. In der Legislaturperiode zuvor war sie bereits Gemeinderatsmitglied in Uccle gewesen. Ein weiteres Mandat nahm Wilmès, deren Vater Philippe Wilmès als Wirtschaftsprofessor an der KU Löwen, Mitglied verschiedener liberaler Ministerkabinette sowie Vorsitzender der Nationalbank in Belgien kein Unbekannter war, als Provinzialrätin in Flämisch-Brabant wahr.

Heute, vier Jahre nach ihrem Einstand in der Föderalregierung und ein Jahr, nachdem sie die Zuständigkeiten öffentliche Verwaltung und Wissenschaftspolitik von der N-VA erbte, zieht die vierfache Mutter als neue (und in der Geschichte erste) Premierministerin Belgiens in die rue de la Loi 16 ein.

Wilmès, die bei den Wahlen Ende Mai 16.000 Vorzugsstimmen gewann, ist gleich am Sonntagnachmittag von König Philippe zur neue Premierministerin ernannt worden.

Sie muss nun ein Land regieren, das sich in keiner komfortablen Situation befindet. Seit nahezu einem Jahr fehlt Belgien eine handlungsfähige Föderalregierung, nachdem sich die flämischen Nationalisten der N-VA nach einem Streit über den UN-Migrationspakt aus dieser verabschiedet hatten. Und seit den Wahlen von Ende Mai hat es immer noch keine konkreten Fortschritte bei der Bildung einer neuen Föderalregierung gegeben. In allen Teilstaaten haben die Regierungen ihre Arbeit begonnen, doch auf gesamtbelgischer Ebene herrscht (noch weitestgehend) Stillstand. Die Vorregierungsbildner Geert Bourgeois (N-VA) und Rudy Demotte (PS) werden am Montag, 4. November, beim König ihren ersten Bericht abliefern.

Da sich also bis auf Weiteres nicht viel tun wird, obliegt Sophie Wilmès es, den Haushalt für das Jahr 2020 nachzubessern. Die EU hatte Belgien in der vergangenen Woche ermahnt, dass der erste Entwurf nicht akzeptabel und „nicht ehrgeizig genug“ war. Die geschäftsführende Regierung Michel II hatte am 15. Oktober einen Haushalt mit vorläufigen Zwölfteln bei der EU-Kommission eingereicht. Und wie die Wirtschaftszeitung „De Tijd“ in ihrer Samstagsausgabe berichtete, droht dem Land das weitere Auseinanderklaffen des Haushaltsloches, da es zurzeit in der Abgeordnetenkammer zu wechselnden Mehrheiten kommt. Als Beispiel nannte die Zeitung eine Episode aus der Kammer in der vergangenen Woche, als eine Mehrheit aus Kommunisten, Sozialisten, Grünen sowie Vlaams Belang die Abstimmung für den Nothaushalt (also die vorläufigen Zwölftel für die Monate November und Dezember) platzen ließ, um mehr Geld für den Gesundheitssektor freimachen zu können. Falls das nicht in dieser Woche nachgeholt wird, droht dem Land sogar zum ersten Mal in der Geschichte ein „Shutdown“. Die Gehälter der Beamten würden zwar wie die Renten weiterhin gezahlt, aber die öffentlichen Dienste würden nicht mehr mit Betriebsmitteln ausgestattet. Das wäre kurzfristig kein so großes Problem, doch langfristig schon.

Wilmès erklärte am Wochenende, dass sie „alles in ihrer Macht Stehende“ tun werde, „um Stabilität und Kontinuität in der geschäftsführenden Regierung zu gewährleisten“. Man habe sich für eine Lösung entschieden, die die „geringsten Verschiebungen für diese diensttuende Regierung mit sich bringt“, erklärte Justiz- und Vizepremierminister Koen Geens (CD&V): „Frau Wilmès ist eine starke Politikerin, und wir wünschen ihr viel Erfolg in ihrer neuen Rolle als Premierministerin. Sie kann auf uns zählen", so Geens weiter.

Finanzminister Alexander De Croo von der Open VLD gratulierte Sophie Wilmès per Twitter und fügte an: „Es kommt jetzt darauf an, die Kontinuität zu gewährleisten, hoffentlich so kurz wie möglich.“ Er wiederholte seine Forderung der vergangenen Tage, dass das Land endlich „eine vollwertige Regierung braucht".

Ihr Nachfolger als Minister für Haushalt, öffentliche Verwaltung und Wissenschaftspolitik ist der Fraktionsführer der MR in der Abgeordnetenkammer David Clarinval. Und das Personalkarussell dreht weiter bei den frankophonen Liberalen. Denn auch für den diensttuenden Außenminister Didier Reynders wird ein Nachfolger gesucht, da dieser in die EU-Kommission von Ursula von der Leyen als Kommissar für Justiz und Menschenrechte berufen wurde und ab Dezember dort sein Amt antreten soll. Und wer weiß? Vielleicht will auch er sich – wie Charles Michel – eine Zeit lang auf diese neue Aufgabe vorbereiten.

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