Die Front hinter der Front: Ukrainische Ehrenamtliche helfen überall

<p>Natalija Timofejewa (links), ehrenamtliche Mitarbeiterin der ukrainischen Hilfsorganisation „Freiwilligenarmee“ (“Armija Wolonteriw“) in Kiew.</p>
Natalija Timofejewa (links), ehrenamtliche Mitarbeiterin der ukrainischen Hilfsorganisation „Freiwilligenarmee“ (“Armija Wolonteriw“) in Kiew. | Foto: Friedemann Kohler/dpa

Die Kleiderkammer der Hilfsorganisation „Freiwilligenarmee“ (Armija Wolonteriw) in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ist vollgestopft, aber es herrscht Ordnung. Gespendete Kinderkleidung ist in Kartons nach Größen sortiert; Jacken, Blusen und Hemden für Erwachsene hängen auf der Stange. Kochtöpfe und Geschirr stapeln sich. Wer vor dem russischen Angriffskrieg aus anderen Teilen der Ukraine in die Hauptstadt geflohen ist, kann sich hier mit dem Notwendigsten ausstatten lassen.

An diesem Winternachmittag arbeitet Natalija Timofejewa ehrenamtlich in der Kleiderkammer. Sie gehört selbst zu den Millionen Binnenflüchtlingen und kommt aus Kramatorsk im Osten. In der Stadt im Donbass hatte die ukrainische Armee seit 2014 ihr Hauptquartier im Kampf gegen die von Moskau gesteuerten Separatisten; deshalb schlugen gleich bei Kriegsbeginn am 24. Februar die ersten Bomben ein. Die Familie entschloss sich mit anderen zur Flucht. „Es war eine Kolonne von 30 Fahrzeugen“, erzählt Timofejewa.

Auch sie wurde nach Ankunft in Kiew erst versorgt; bald arbeitete sie als Freiwillige mit: „Ich habe mich gebraucht gefühlt“, sagt die 46-Jährige. „Wir freuen uns sehr, wenn wir jemandem helfen können.“

Die große innergesellschaftliche Solidarität, der Einsatz Zehntausender Freiwilliger ist einer der Gründe, warum die Ukraine dem Angriff des großen Nachbarn bislang widerstanden hat. An dieser Front hinter der Front gibt es unendlich viel zu tun: Freiwillige bringen Menschen aus umkämpften Gebieten heraus; sie treiben Helme, Schutzkleidung, Fahrzeuge für Soldaten im Einsatz auf; sie räumen den Schutt zerstörter Häuser weg und helfen beim Wiederaufbau; sie sorgen dafür, dass Bedürftige Essen und Kleidung bekommen.

Von Kriegsbeginn bis Ende Juni registrierte das Justizministerium 4.365 neue gemeinnützige Organisationen. Seit den großen Protestwellen von 2004/05 und 2013/14 ist die ukrainische Gesellschaft Selbsthilfe gewohnt und lässt sich schnell mobilisieren. Präsident Wolodymyr Selenskyj würdigte die Freiwilligen erst kürzlich als „Teil des Fundaments der Ukraine.“ Und betonte dabei: „Heute sind die Freiwilligen der stärkste Teil der Zivilgesellschaft der Ukraine.“

Diese Zivilgesellschaft stemmt auch Großprojekte. Prominente nutzen ihren Bekanntheitsgrad. Nach Spendenaufrufen des TV-Moderators Serhij Prytula kam genug Geld für türkische Drohnen zusammen. Der Hersteller verschenkte diese jedoch, stattdessen wurde der Zugang zu finnischen Aufklärungssatelliten erworben. In Warschau arbeiten ukrainische Politikerinnen, um westliche Hilfe zu mobilisieren. Seit russische Raketen das Energiesystem der Ukraine schwer beschädigt haben, versucht die frühere Abgeordnete Viktoria Wojzizka, im Ausland Trafos für die Umspannwerke aufzutreiben.

An der Tür der „Armija Wolonteriw“ klingelt es. Darja Abusowa, auch aus dem Donbass geflüchtet, ist angemeldet. Sie braucht Kleidung für ihre zwei Monate alte Tochter: „Sie ist groß.“ Timofejewa überprüft auf dem Handy ihrer Kundin den digitalen Ausweis für Binnenflüchtlinge. Dann suchen die Frauen die Babysachen in Größe 62 durch. „Brauchen sie auch einen Tragesack?“, fragt Timofejewa. Der wird gerne genommen. Eine Babydecke und ein Paket Windeln gibt es noch dazu. Zum Schluss wird Abusowa mit ihren Schätzen fotografiert. Damit wird die Verwendung der Spenden dokumentiert und auf der Facebook-Seite der „Freiwilligenarmee“ Reklame gemacht.

Auch der Staat helfe den Binnenflüchtlingen, sagte Timofejewa, die mittlerweile hauptberuflich bei der Sozialbehörde in Kiew arbeitet. Es gebe Lebensmittel und monatlich 2.000 Hrywnja (48 Euro) für jede Person, 3.000 Hrywnja für Invaliden. „Das ist ein gutes Paket.“ Trotzdem sei es bei weitem nicht genug: „Ohne die Freiwilligenarbeit könnte die Ukraine nicht überleben.“

Die kleine Gruppe von Ehrenamtlern in der „Armija Wolonteriw“ sammelt nicht nur Spenden und betreibt die Kleiderkammer. Sie räumt auch den Schutt zerstörter Häuser im Umland von Kiew weg. Ihr Kopf ist die Marketingexpertin Olexandra Arnautowa (38). „Das ist ein Beitrag zu unserem Sieg“, sagt sie. Sie wolle sich nicht in 20 Jahren von ihren Kindern fragen lassen: Mama, warum hast Du nichts gemacht, als Krieg war? „Wenn es die vielen Freiwilligen nicht gegeben hätte, hätten unsere Soldaten viel weniger gehabt, bevor der Staat sie ausrüsten konnte.“ Die Freiwilligen, die Wolontery, seien „ein Beispiel dafür, dass Menschen ihre Probleme selbst lösen können“.

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