Wie viele Menschenleben ist ein Bauwerk wert?

<p>Wesertalsperre in Eupen</p>
Wesertalsperre in Eupen | Foto: Photo News

In der Zeit vom 4. bis 8. Juli sind Studenten, die Interesse daran haben, einmal den Beruf des Journalisten zu ergreifen, zu einem eintägigen Praktikum im GrenzEcho zu Gast. Dieser Beitrag entstand im Rahmen dieses Projektes.

Geht man durch die Unterstadt in Eupen, sind die Spuren der Zerstörung kaum zu übersehen. Restaurants, die mit ausgewählten Köstlichkeiten lockten, stehen heute leer und sind kaum mehr als eine Bauruine. Einzelhändler, die einst ein gutes Geschäft machten und auf eine Stammkundschaft zählen konnten, mussten dabei zusehen, wie alles, was sie aufgebaut haben, fortgespült wurde. 39 Todesopfer im Wesertal, um die noch immer getrauert wird. Und das Schlimmste an all dem ist, dass das Ausmaß der Katastrophe nachweislich vermeidbar war. Es drängt sich also auf, die Geschehnisse noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Fakt ist, menschliches Versagen hat für einen Teil der Wassermassen gesorgt, die Existenzen vernichtet haben.

Es war der 10. Juli, ein Samstag, als vier Tage vor der Flutkatastrophe das „European Flood Awareness System“, kurz EFAS, vor sintflutartigen Regenfällen, auch in Ostbelgien warnte. Hier hätte Minister Henry bzw. seine Verwaltung schon entsprechende Vorkehrungen veranlassen können, haben sie aber nicht. Eine einzelne Warnung geht schnell mal unter oder läuft Gefahr nicht ernst genommen zu werden. Aber es war nicht eine Warnung, sondern es waren 24, die sich größtenteils sogar auf präzise Gebiete bezogen. Wie kann es also sein, dass in den vier Tagen rein gar nichts unternommen wurde? Angesichts all der Warnungen ist dies nur schwer nachzuvollziehen. Dass den Naturgewalten freies Spiel gelassen wurde, liegt an einer Regelung, an die sich stoisch gehalten wurde: Es wird erst Wasser aus der Talsperre abgelassen, wenn die Gebäudestruktur gefährdet ist. Und das war wohl erst der Fall, als das Wasser kurz davor stand, über den Damm zu schwappen. Allerdings berichteten Besucher sonntags schon, dass der Wasserspeicher nahezu voll gewesen sei. Der zuständige wallonische Minister sah das offenbar ganz anders. Er behauptete öffentlich, dass die Talsperre am Montag nur halb voll gewesen sei. Das war eine Lüge.

Die Wahrheit ist, dass an der Wesertalsperre gewartet wurde, bis es zu spät war. Es wurde kein Wasser vorsorglich und kontrolliert abgelassen. Die Konstruktion war offenbar nicht gefährdet: Der Minister ging davon aus, dass die Wesertalsperre „alle angekündigten Regenfälle auffangen“ könne. Spätestens Mittwoch Abend war klar: Es war eine Fehleinschätzung. Also wurde doch Wasser abgelassen und zwar in der Spitze 193 Kubikmeter pro Sekunde, wie der Untersuchungsausschuss im Wallonischen Parlament ermittelte.

Wer hier noch kein Bild vor Augen hat, wie diese unvorstellbaren Wassermassen das Tal runterrasten, der sollte das Wesertal besuchen und sich selbst ein Bild machen. Die Umrisse von mehrstöckigen Häusern, die fortgetragen wurden, die Berge an Holz und Geröll, die Hunderttausende Tonnen wiegen, die Felsbrocken, die das Wasser mühelos ins Tal trug und überall zu finden sind, teilweise sogar das Flussbett versperren. Was passiert ist, fragt man am besten nicht die Verantwortlichen, die es nicht sein wollen, sondern diejenigen, die es erlebt haben. Wurde das Wasser wirklich kontinuierlich abgelassen? Sie berichten von mehreren Tsunamis. Mehrere Flutwellen, die durch das Eupener Kabelwerk hindurch rauschten und selbst schwere Kabelrollen wegtrugen, als sei es nur Playmobil. Am Rand der Weser sieht man auch ein Jahr später noch zerbeulte Container und Schutthaufen, die von der Nacht vom 14. Auf den 15. Juli zeugen.

Dass es nicht so laufen muss, bewies Marc Locht, der für das Wassermanagement der Talsperren von Bütgenbach und Robertville zuständig ist. Diese werden von der Engie-Electrabel betrieben und fassen circa acht Millionen Kubikmeter Wasser. Er bzw. seine Kollegen hatten die beiden Talsperren bereits montags schrittweise geöffnet. Engie-Sprecher Desclée sagte dem Grenzecho gegenüber: „Die Vorsorge von 48 Stunden hat es uns erlaubt, Platz für 1,2 Millionen Liter Wasser zu schaffen“. Dabei standen Locht dieselben Informationen zur Verfügung wie den Ingenieuren an der Wesertalsperre.

Geht man heute durch Eupen und beobachtet, wie alles Stück für Stück wieder aufgebaut wird, bleibt doch die Trauer über eine Tragödie, deren Ausmaß vermeidbar war. Es bleibt die Frage, wer steht gerade für die über 100.000 Geschädigten, die hunderten, teilweise komplett zerstörten Bauwerke und die 45.000 beschädigten, zum Teil unbewohnbaren Wohnungen? Bislang leider niemand.

So wurde die Einhaltung einer Regel zum Schutze der Talsperre offenbar höher bewertet als Menschenleben. Den immens hohen Preis dafür haben die Menschen im Wesertal gezahlt.

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