Leningrader Blockade: Wera überlebte das deutsche Verbrechen

<p>Wera Alexandrowna Ryzina und ihr Mann Guri Ryzin. Sie hat die Leningrader Blockade als kleines Mädchen erlebt - und überlebt. Heute ist die Zeitzeugin des Wehrmachtsverbrechens 84 Jahre alt.</p>
Wera Alexandrowna Ryzina und ihr Mann Guri Ryzin. Sie hat die Leningrader Blockade als kleines Mädchen erlebt - und überlebt. Heute ist die Zeitzeugin des Wehrmachtsverbrechens 84 Jahre alt. | Foto: Ulf Mauder/dpa

„Mama sieht nicht und hört nicht... Aber ich konnte da nicht wissen, dass mich der Tod mit offenen Augen ansieht.“ Wera Alexandrowna Ryzina verarbeitet in diesen Zeilen eines Gedichts den Tod ihrer Mutter während der Leningrader Blockade. Vor 80 Jahren - am 8. September 1941 - riegelte die deutsche Wehrmacht auf Befehl Adolf Hitlers Leningrad ab, das heute wieder St. Petersburg heißt. Bomben fielen. Doch vorrangiges Ziel der Faschisten war es, die zweitgrößte Stadt der Sowjetunion systematisch durch Hunger auszulöschen.

„Sie wollte sich nur kurz hinlegen, ausruhen, bevor wir die Stadt verlassen sollten“, erinnert sich die heute 84-Jährige an die letzten Stunden mit ihrer Mutter. „Aber wie konnte sie schlafen mit offenen Augen, die an die Decke starrten? Ich wollte sie wachrütteln.“ Erst da begriff die Fünfjährige an dem Julitag 1942 - beide hatten den extrem harten Winter überlebt -, dass ihre Mutter Olga nicht mehr am Leben war. Mehr als eine Million Menschen starben in Leningrad, bis die Blockade nach rund 900 Tagen Dauer am 27. Januar 1944 endete. „Das ist der Tag, den wir bis heute feiern“, sagt Wera Alexandrowna an diesem spätsommerlichen Tag auf ihrer Datscha rund eine Autostunde vom Stadtzentrum entfernt. Auf dem Grundstück mit den gerade jetzt prallen Kürbissen und reifen roten Vogelbeeren verbringt sie mit ihrem Mann Guri die warme Jahreszeit. Wera Alexandrowna ist eine der wenigen noch übrigen Zeitzeugen - eine „Blockadniza“, wie sie als Überlebende genannt wird. „Meine Mutter hatte die Sachen gepackt, die Taschen standen bereit“, erzählt die Seniorin über den Juli 1942. Sie lebten in Leningrad in einer Gemeinschaftswohnung. „Wir sollten zusammen die Stadt in einer Evakuierungsaktion verlassen - über den Ladoga-See.“ Der „Put schisni“ - Deutsch: Weg des Lebens - hieß die gefährliche und immer wieder bombardierte Route, über die Menschen damals zeitweilig die Stadt verließen, über die aber auch Proviant zu den Menschen kam.

Wera Alexandrowna erinnert sich an Wassersuppe mit Brotkrumen. „Mama saß da, aß nicht. Sie sagte nur, dass sie schon gegessen habe und alles für mich sei.“ Bis heute quält die Seniorin der Gedanke, dass sich ihre Mutter zu Tode hungerte, um ihre kleine Tochter zu retten. „Ich kann mich gar nicht an ein Gefühl des Hungers erinnern.“ Der Vater hatte die Familie damals verlassen, arbeitete im Krieg als Flugzeugmechaniker, reparierte beschädigte Flugzeuge. Auch er brachte der Familie etwas zu essen, wie sich Wera Alexandrowna erinnert. Dass viele Eltern selbst auf die streng zugeteilten Rationen von Brot, Fleisch und Fisch verzichteten, um ihre Kinder zu retten, ist auch im Museum zur Verteidigung Leningrads überliefert. In der 2019 erneuerten multimedialen Ausstellung ist dokumentiert, dass die Menschen vor allem an Hunger, aber auch an Kälte und Krankheiten sowie bei Granatenbeschuss und den Kämpfen um Leningrad starben.

Bei 125 Gramm Brot lag die Tagesration zeitweilig - zugeteilt über Lebensmittelmarken. Die Menschen aßen alles - auch Kleister und Kaffeesatz. Ein Exponat im Museum zeigt die Haut einer Maus, die ein Jugendlicher nach dem Verzehr des Tiers in seinem Tagebuch behielt. Überliefert sind von Historikern auch Fälle von Kannibalismus. Wera Alexandrowna ist froh, dass heute mehr denn je an das Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert wird. Zu Sowjetzeiten - sie überlebte Diktator Josef Stalin und andere kommunistische Staats- und Parteichefs wie Nikita Chruschtschow und Leonid Breschnew - war das Museum zeitweilig geschlossen.

Nicht das Leid der Menschen in der Sowjetunion, die rund 27 Millionen Todesopfer im Krieg beklagte, stand im Vordergrund - sondern der ruhmreiche Sieg über den Hitlerfaschismus. Auf dem Gedenkfriedhof Piskarjowskoje in St. Petersburg liegen Hunderttausende Opfer der Blockade in Massengräbern. „Mama liegt in der Grabstätte Nummer 15“, sagt Wera Alexandrowna. Als sie sich erinnert, wie sie den Namen ihrer Mutter Olga Essaulowa dort fand, kommen ihr die Tränen. „Sie gab ihr Leben, damit ich leben kann.“ In ihrem Gedicht zur Blockade findet sich mehrfach die an die Mutter gerichtete Zeile: „Vergib mir, Liebe!“ Nach dem Tod der Mutter kam Wera Alexandrowna nach Sibirien in ein Kinderheim ins Tomsker Gebiet - rund 4.000 Kilometer von der Heimatstadt entfernt. Drei Jahre später, nach Kriegsende, kehrte sie 1945 mit dem Zug zurück nach Leningrad. Ihr Vater wartete auf dem Bahnsteig. „Ich hörte meinen Namen, habe Vater aber nicht erkannt. Ich erinnere mich gut, wie ich wie eine Trophäe in dem Menschengedränge von Soldat zu Soldat gereicht wurde, bis ich bei ihm war.“

Als Kind lebte sie bei ihrem Vater, der neue Frauen fand. Sie wurde Chemikerin. „Ich war verschlossen. Mein Leben bekam erst so richtig wieder einen Sinn, als ich Guri traf.“ Ihre große Liebe. Seit 62 Jahren sind sie ein Paar. Zwei Söhne haben sie. Heute lebt Wera Alexandrowna von rund 33.000 Rubeln (rund 380 Euro), etwa das Doppelte einer russischen Durchschnittsrente - wegen ihres Status als Überlebende der Blockade. Bei einem Glas Sekt - „Brut am liebsten“ - erzählt Wera Alexandrowna, dass sie mit ihrer Enkelin Nastja schon in Prag, Rom und Paris war. „Aber nirgends ist es schöner als in Petersburg.“ In Deutschland war sie nie. Aber Groll habe sie nie gehegt gegen Deutsche - „nur gegen Hitler“. „Viele Deutsche mussten als Kriegsgefangene Leningrad mit aufbauen. Sie waren Soldaten, die Befehle ausführten.“ Nach dem Krieg hätten viele Leningrader Mitleid mit ihnen gehabt - und den Deutschen mitunter Brot zugesteckt. Auch daran erinnert sie sich. (dpa/sc)

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