Die Chance einer ungewissen Zukunft

<p>Kurt Pothen, Künstlerischer Leiter der Agora</p>
Kurt Pothen, Künstlerischer Leiter der Agora

Mit der wundersamen gesellschaftlichen Akzeptanz der Maßnahmen, die getroffen wurden, um einer unkontrollierbaren Verbreitung eines Virus mit Namen Covid-19 entgegenzuwirken, veränderte sich plötzlich alles. Eine seit drei Generationen nicht gekannte Einschränkung der für uns zu einer „freiheitlichen Gesellschaft“ gehörenden Werte wie „Versammlungsfreiheit“, „Reisefreiheit“, „Mitbestimmung“, etc., die vor einigen Monaten noch zur Normalität gehörten, sind von heute auf morgen aufgehoben worden, ohne dass es einen Aufschrei der Empörung und Massendemonstrationen gegeben hat.

Dafür gibt es Gründe. Wir haben akzeptiert, dass diese Einschränkungen zum Schutz der Menschen, die zur ‚Risikogruppe‘ gehören sowie zur Vermeidung einer Überlastung unseres Gesundheitssystems getroffen wurden. Gute, nachvollziehbare Gründe. Bedenklich bleibt, dass 100 Tagen nachdem Corona von der WHO offiziell als globale Pandemie deklariert wurde, die Diskurse und Diskussionen über diesen historischen Schritt der De-deregulierung und der (selbst in Wirtschaftskreisen) großen Akzeptanz dieser, die Erfahrungen, Chancen und Möglichkeiten, die damit verbunden sind oder sein können nicht oder nicht hörbar genug geführt werden. Wir, in unserer privilegierten westlichen konsumorientierten und -verwöhnten Gesellschaft erfahren plötzlich, was es heißt einer Bedrohung gemeinsam entgegenwirken zu müssen, die als Virus gleichzeitig so klein ist und dennoch so bedrohlich, dass wir auf alles (vorübergehend) bereit sind, zu verzichten, was uns ‚lieb und teuer‘ schien.

Für diese globale Bedrohung - und das ist anders - kann kein Mensch, kein System, keine Fundamentalistengruppe, kein Flüchtling, kein einäugiger Albino als Sündenbock verantwortlich gemacht werden. Nicht nur, dass diese Tatsache all die rechten, opferverliebten Hetzer auf das zurückwirft, was sie sind: Blender, die sich Macht erhoffen, indem die für sie als Schuldige definierten Minderheiten oder Gruppen abschieben oder aus dem öffentlichen Leben entfernen wollen (Und was das heißt, wissen wir). Aber nicht nur das wird sichtbar. Auch die bereits vor Corona bestandene Ungerechtigkeit und Ungleichheit unserer von einer postkolonialen, patriarchalen und demokratisch-neoliberal geprägten Gesellschaft gegenüber „Kulturfremden“, Frauen und Menschen, deren Beitrag zur allgemein verlangten und als notwendig empfundenen Entwicklung unseres Lebensstandards als zu gering bewertet wird, erfährt eine neue Dimension der Wahrnehmung. Der Mord an George Floyd durch einen Polizisten ist nicht der erste in diesem Kontext gewesen. Vor Corona hätte dieser Fall allenfalls durch Petitionen die Chance gehabt, eine vorübergehende Aufmerksamkeit zu erregen. Heute überträgt sich die Solidarität und der Mut, der am eigenen Leib erlebten Einschränkungen während der Corona-Maßnahmen, auf die Menschen, die auch vor Corona bereits zu einer „Risikogruppe“ wegen ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Religion, etc. gehörten. „Krise“ im wörtlichen Sinne heißt „entscheidende Wendung“.

Und genau vor dieser Herausforderung und Chance stehen wir: Wir haben die Möglichkeit mit einer ungewissen Zukunft umzugehen. Niemand, kein*e Politiker*in, kein*e Priester*in, keine Unternehmensleitung kann sagen, wie wir nach oder mit Corona leben werden. Wir entscheiden, ob die Erfahrung von autofreien Straßen und einem flugzeugleeren Himmel auch nach Corona unsere Haltung zu Billigflügen und Autofahren verändern wird. Wir entscheiden, ob billiges Fleisch und billige Kleider den Preis wert sind, den andere unter unwürdigen und schämenswerten Bedingungen dafür zahlen in Billigfabriken und Massentierhaltungen. Diese Freiheit und diese Chance einer gemeinsamen (Neu)Gestaltung unserer Zukunft bietet uns diese ungewisse Zukunft. Nutzen wir sie.

Kommentare

  • Ich hätte mir vom künstlerischen Leiter der Agora, Kurt Pothen, etwas mehr Freiheitsliebe und Engagement für unsere Grundrechte, u.a. und insbesondere für das Recht auf ungehinderten Zugang zu Ausbildung, erhofft.  Den ausbleibenden „Aufschrei der Empörung“ deutet er als „wundersame gesellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen“.  Dabei vergisst er, dass jedweder Aufschrei, entweder mit drakonischen Strafen seitens der Staatsmacht (öffentliches Versammlungsverbot) oder mit einer genauso drastischen Verunglimpfung seitens mancher Mitbürger (fehlende Solidarität und fehlendes Mitgefühl, Egoismus, Feierwütigkeit, etc.) unterdrückt oder in die rechte Ecke gedrängt (Verschwörungstheoretiker, Staatsfeind) wurde.

    Was ich aber nun wirklich bedenklich finde ist, dass der künstlerische Leiter offenkundig eine freiheitliche Gesellschaft vorrangig als eine „privilegierte westliche konsumorientierte und -verwöhnte Gesellschaft“ begreift, die „diesen historischen Schritt der De-deregulierung“ (also Regulierung) doch bitte schön als Chance zu begreifen und zu erkennen hat, dass es mit der bisher gelebten Freiheit so nicht weitergehen kann.  Wenn Herr Pothen der Meinung ist, dass in der Gesellschaft etwas schief läuft, sollte er seine privilegierte Stellung als künstlerischer Leiter dazu nutzen, andere von seinen Vorstellungen diesbezüglich zu ÜBERZEUGEN, anstatt einem sich diktatorisch gebärenden Staat auf die Schulter klopfen.  Der Umstand, dass dessen Politik, die ich bei allem anfänglichen Verständnis spätestens seit Mitte April nicht mehr gutheißen kann, eben auch mit bestimmten „Kolateralnutzen“, wie „autofreien Straßen und flugzeugleerem Himmel“ einhergeht, kann mich nicht beruhigen in Anbetracht dessen, dass große Teile der Politik und auch der Medien immer häufiger fast „bewundernd“ in Richtung China und Südkorea schielen.

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