Psalm

Wie undicht sind doch die Grenzen menschlicher Staaten! Wie viele Wolken schwimmen straflos darüber hinweg, wie viel vom Sand der Wüsten rieselt von Land zu Land, wie viele Bergsteine rollen auf fremden Besitz in frechem Gehüpf!

Muss ich hier Vogel für Vogel aufzählen, wie er fliegt oder wie er sich setzt soeben auf den gesenkten Schlagbaum?

Und wäre es gar ein Spatz - schon ist sein Schwänzchen drüben, sein Schnabel aber noch hüben. Und obendrein - wie er zappelt!

Von ungezählten Insekten erwähne ich nur die Ameise, die zwischen dem linken und rechten Schuh des Grenzschutzpostens auf dessen Frage woher, wohin - sich zu keiner Antwort bequemt.

Oh, diese ganze Ordnungswidrigkeit auf einmal auf allen Kontinenten!

Schmuggelt da nicht vom anderen Ufer die Rainweide das hunderttausendste Blatt über den Fluss?

Wer sonst als der Tintenfisch, langarmig, dreist, verletzt die heilige Zone der Hoheitsgewässer?

Kann überhaupt von Ordnung gesprochen werden, wo man nicht einmal die Sterne ausbreiten kann, damit man weiß, wem welcher leuchtet?

Und dann das tadelnswerte Sich-Breitmachen des Nebels!

Das Stauben der Steppe in alle Weite, als wäre sie nicht in der Mitte geteilt!

Und das Widerhallen der Stimmen auf willigen Wellen der Luft: des Lock-Gepiepses und des bedeutsamen Glucksens!

Nur das, was menschlich ist, kann wahrhaft fremd sein.

Der Rest ist Mischwald, Maulwurfsarbeit, Wind.

Aus Wislava Szymborska (Nobelpreisträgerin): Hundert Freuden - Gedichte

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