Bilder, über die es nichts zu sagen gibt


Es gehört zum Wesen der meisten Krisen, dass sie unübersichtlich sind. Und so fühlen sich viele Menschen von der gegenwärtigen Flüchtlingskrise überfordert. Von dem Chaos, den Widersprüchen, von der schwierigen Fassbarkeit von Ursache und Wirkung. Erzählt wird dieses Drama vor allem in Bildern. Sie übernehmen mittlerweile den wesentlichen Teil der Berichterstattung und lassen Sprache und Schrift als Träger von Informationen hinter sich.

Der französische Philosoph und Wissenschaftler Roland Barthes sagte, die Fotografie erfinde das Reale nicht, sondern ihr Wesen bestehe in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt. Deshalb sehen wir in einem Bild den direkteren Beweis für ein Ereignis als in einer Meldung.

Innerhalb der vergangenen Woche haben vor allem zwei Bilder die Wahrnehmung dieser Krise bestimmt. Das Bild eines dreijährigen Jungen, auf der Flucht ertrunken, angeschwemmt an der türkischen Küste, und das Bild einer blonden TV-Reporterin, die einem Mann ein Bein stellt, er stürzt im vollen Lauf, mit seinem Sohn im Arm, auf der Flucht vor ungarischen Polizisten mit Schlagstöcken. Es sind kalte, monströse Bilder.

Was macht sie so stark? In dem Buch „Der Schatten des Fotografen“ untersucht der Kulturwissenschaftler Helmut Lethen die Wirkungsweise von Bildern und ihr Verhältnis zur Wirklichkeit. Er führt aus: „Die Fotografie reißt in ihrem Schweigen den Gegenstand aus dem dröhnenden Kontext der realen Welt.“

Die beiden Bilder schweigen und schreien zugleich. Sie scheinen als Standbild den Strom der Bilder dieses Dramas zu stoppen: Szenen aus Lampedusa, von der ungarischen Grenze, vom Münchener Hauptbahnhof oder vom Zeltlager in Brüssel. Sie handeln von einer kaum erträglichen Verlassenheit der Personen. Verlassen von aller Menschlichkeit. Der Junge, weil kein Mensch ihm eine rettende Hand reichen konnte. Der Mann, weil ein Mensch ihn zu Fall gebracht hat.

Aylan, der tote Dreijährige, kann zur traurigen Ikone dieser Zeit werden.

So krass, dass es die meisten Betrachter tatsächlich noch berührt, nach den vielen Bilderzyklen, die uns seit langer Zeit von Flüchtlingen erreichen – Särge, Leichen im Wasser, apokalyptische Szenen in Wüsten, auf Booten, dichtes Gedränge, dunkle Mienen, aufgerissene Münder, panische Augen, Hände, die nach irgendetwas greifen. Endzeitstimmungen: die Bildsprache von Horrorfilmen.

Es gibt Bilder, die sind nicht nur in die Geschichte eingegangen, sie haben sie sogar gestaltet. Helmut Lethen schreibt darüber, in welchem Ausmaß Bilder inzwischen „den Rang von Geschichtszeichen“ haben, also nicht nur als Belege von Ereignissen dienen, sondern auch in der jeweiligen Situation Veränderungen von Ereignissen herbeiführten. Er nennt Ikonen der preisgekrönten World Press Photos.

Wir alle kennen die Beispiele, die Lethen nennt: das jüdische Kind mit Mütze, das im Warschauer Getto die Hände hebt, der Polizeipräsident von Saigon, der einem entwaffneten Vietkong in den Kopf schießt, der buddhistische Mönch, der sich 1963 verbrennt, der vietnamesische Vater, der unter einem Regenschirm weint und die Leiche seines toten Kindes im Sack herumschleppt. Auch das Bild des nackten Mädchens, das in Vietnam vor dem Napalm der Amerikaner flieht oder die Menschen, die aus den Türmen des World Trade Centers springen, gehören in diese Kategorie. Es sind „Bilder, die andere Bilder zum Schweigen bringen“.

Aylan, der tote Dreijährige, und der zu Fall gebrachte Vater haben das traurige Potenzial, zu Ikonen dieser Zeit zu werden. Barthes nennt Bilder dieser Art „traumatische Fotografien, über die es nichts zu sagen gibt“. Lethen schreibt: „Die Sprache ist hier suspendiert, etwas Reales scheint auf, das nicht in Lesbarkeit überführt werden kann.“

Aber selbst die dokumentarische Qualität der Bilder ist umstritten. Schon die Anwesenheit von Reportern verändert das Ereignis, über das berichtet werden soll. Im Falle der ungarischen TV-Journalistin lässt sich klar sagen: Sie hätte dem Flüchtling kein Bein gestellt, wenn sie nicht vor Ort gewesen wäre.

Die Frau, deren Arbeitgeber N1TV nach Medienberichten zum rechten Lager in Ungarn gehören soll, und die auf verschiedenen Videos dabei gezeigt wird, wie sie weitere Flüchtlinge tritt, diese Frau sorgt paradoxerweise für die Bestätigung einer Wahrnehmung, die sie durch ihre Berichterstattung eigentlich verhindern wollte.

Vermutlich wäre das Ergebnis ihrer Arbeit ein Film gewesen, der die Flüchtlinge als Kriminelle abgestempelt hätte, weil sie aus dem völlig überfüllten Lager in Rözske ausgebrochen sind. Nun wurde ihre Gewalt zum Symbol für die Gewalt, die viele Flüchtlinge trifft, egal wo auf der Welt: dumm und unbegründet.

Ein Vorwurf der Manipulation muss allerdings gemacht werden. Das Bild, welches von der Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag veröffentlicht wurde, zeigt den Vater mit seinem Sohn im Arm im Sturz. Fotografiert von Marko Djurica. Als am Mittwoch der Skandal öffentlich wurde, schickte Reuters die Bilderfolge des selben Fotografen hinterher, auf der der Übergriff der Reporterin klar zu sehen war. Ein klares Fehlverhalten der Agentur, zumindest des Fotografen, dass er nicht die ganze Wahrheit direkt gezeigt hat.

Das ist bei dem Bild des toten Aylans anders. Es besteht die Gefahr, dass das Bild auf einer bitterbösen Inszenierung beruht. Vor allem von Fremdenhassern wird im Netz die These der Manipulation hochgehalten. Aber nach den Aussagen sämtlicher Nachrichtenagenturen können Ort, Zeit und die Urheber der Fotos benannt werden.

Weitere Bilder werden folgen. Und es wird auch Trugbilder geben. Skepsis und Unbehagen gegenüber massenwirksamen Fotografien sind heute immer angebracht. Die Frage ist, ob wir unsere moralische Einstellung am Ende wirklich von der technischen Beweisbarkeit eines Motivs ableiten wollen. Und ob wir nicht doch nur das sehen, was wir sehen wollen.