Vom Wert des Lebens und Füreinanderdaseins

<p>Tobias Schlegl: „Kümmert euch bitte um ältere Menschen, aber kümmert euch bitte auch um die Pfleger und Pflegerinnen.“</p>
Tobias Schlegl: „Kümmert euch bitte um ältere Menschen, aber kümmert euch bitte auch um die Pfleger und Pflegerinnen.“ | Foto: Christian Charisius/dpa

Was macht ein Leben lebenswert? Und wer darf darüber entscheiden? Es sind große Fragen, die Autor, Moderator und Notfallsanitäter Tobias Schlegl in seinem neuen Roman „Strom“ behandelt. Fragen, die sich dort nicht nur, aber viel in Bezug auf ältere, kranke Menschen stellen.

Denn Schlegls zweiter Roman beleuchtet die Arbeit von Pflegekräften auf einer Geriatrie mit Schwerpunkt Demenz. „Wir kennen Serien, die in der Notaufnahme spielen, wir kennen aus der Corona-Zeit jetzt die Intensivstation. Aber ich glaube, keiner weiß, was so auf Demenzstationen in der Klinik wirklich passiert“, sagt der 45-Jährige der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg.

Mit seinem Roman wolle er diesen „verschlossenen Raum“ öffnen und erfahrbar machen. Das gelingt - auch durch den frischen Blick von Protagonistin Nora. Die Anfang 20-Jährige macht genau wie Schlegl einst selbst im Rahmen ihrer Ausbildung zur Notfallsanitäterin Station auf der Geriatrie mit Schwerpunkt Demenz. Dort wäscht sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Menschen, ist dabei, als Patientinnen und Patienten aus der Demenzstation ausbrechen. Seine eigenen Erfahrungen sind „das Fundament, auf dem das ganze Buch fußt“, erklärt Schlegl.

Er habe im Nachhinein aber noch eine Pflegefachkraft darüber lesen lassen, damit die Details passten - auch wenn er selbst nicht jahrelang auf so einer Station gearbeitet habe. Die zwei bis drei Wochen, die er dort während seiner von 2016 bis 2019 dauernden Notfallsanitäter-Ausbildung gearbeitet habe, waren für den Wahl-Hamburger eindringlich: „Ich fand das mit die intensivste Station, weil man auf der einen Seite sehr eigenwillige Patienten hat, aber gleichzeitig auch sehr, sehr liebevolle Patienten.“

Nicht selbst begegnet ist Schlegl einem Pfleger wie der Romanfigur Frank, den Nora auf der Geriatrie trifft. Frank erlebt einen Rausch, wenn er Leben rettet. Doch er misst den Leben seiner Patientinnen und Patienten nicht viel Wert bei, setzt sie immer wieder aufs Spiel. „Das ist einerseits reine Fiktion, andererseits aber auch nicht, weil das beruht natürlich auf wahren Begebenheiten“, sagt Schlegl. Dass Pfleger Menschen das Leben nähmen, sei kein Einzelfall, sondern passiere weltweit. „Deshalb bezieht sich die Geschichte nicht nur auf den einen Fall, den wir alle kennen, mit dem Herrn, der in Oldenburg und Delmenhorst gemordet hat.“

Der Krankenpfleger Niels Högel wurde 2019 wegen Mordes in 85 Fällen vom Landgericht Oldenburg zu lebenslanger Haft verurteilt. Es sei ihm wichtig gewesen, Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, ohne ihm die größte Plattform zu bieten, sagt Schlegl. Für ihn sei daher auch Nora die zentrale Protagonistin.

Auf der Demenzstation lernt die Auszubildende, die sich mit der Entscheidung über eine ungewollte Schwangerschaft konfrontiert sieht, neben Frank auch den langjährigen Pfleger Diddy kennen. Ähnlich wie die empathische Nora kümmert sich Schlegls „heimlicher Star“ fürsorglich um seine Patienten. „Es war mir wichtig, dass dieses Gleichgewicht, dieses Pendel auf jeden Fall in die positive Richtung schwingt und auch zeigt: das ist einfach möglich, anders zu handeln als Frank.“ Für psychisch vorbelastete Pfleger wie Frank seien Kliniken ohne richtige Fehlerkultur „ein extrem ungesunder Nährboden“, meint Schlegl. Doch auch Pflegekräfte ohne eine solche Vorbelastung müssen in ihrem Arbeitsalltag mit Herausforderungen und Missständen kämpfen - das zeigt der 240-seitige Roman eindrücklich. Sein Buch wollte Schlegl, der einst als Moderator beim Musiksender Viva bekannt wurde, am Montag in der Hamburger Laeiszhalle im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals vorstellen.

Durch geschickte Perspektivwechsel schafft es Schlegl in „Strom“ nicht nur, Spannung aufzubauen. Er hebt dadurch auch einzelne Passagen besonders hervor. Anders als der Rest des Buches werden diese nicht aus der Sicht von Nora, Diddy oder Frank geschildert. Dadurch bekommen zentrale Themen des Romans besondere Aufmerksamkeit, darunter das Alleinsein im Alter beziehungsweise der Wert des Füreinanderdaseins. Schlegl wirft mit seinem Roman somit ein Schlaglicht auf eine ganze Reihe gesellschaftlich relevanter Themen. Zu der zentralen Frage, ob auch Menschen mit schweren Erkrankungen noch Lebensqualität haben könnten, hat er eine eindeutige Haltung. Ohne mit den Erkrankten und Angehörigen gesprochen zu haben, „darf man sich da überhaupt keine Meinung selber zu bilden“, sagt der 45-Jährige.

Bei ihm persönlich hat der Kontakt mit den Patientinnen und Patienten zu einer Antwort beigetragen, die lebensbejahend ist: „Selbst mit schweren Erkrankungen wie Demenz hat man definitiv noch Momente, die konnte ich ja miterleben, in denen noch ganz viel Lebensfreude da ist, in denen man weint und lacht und das Leben noch ganz intensiv spüren kann.“ (dpa/sc)

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