„Der Wahrheit verpflichtet“ – Verfolgung in Russland im Arte-Fokus

<p>Der russische Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow</p>
Der russische Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow | Foto: picture alliance/dpa/POOL NTB

Anderthalb Jahre nach dem Anschlag mit säurehaltiger roter Farbe wartet der russische Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow weiter vergeblich auf Aufklärung des Verbrechens. Er hat keine Zweifel, dass offizielle Stellen in Russland hinter der weltweit beachteten Attacke stecken. Sie hatte das Ziel, den 61 Jahre alten Chefredakteur der kremlkritischen Zeitung „Nowaja Gaseta“ Todesangst einzujagen. Wie es sich in Russland mit dieser Bedrohung leben lässt, zeigt die packende Doku „Russland: Der Wahrheit verpflichtet“ bei Arte (26.9. um 20.15 Uhr; auch in der Mediathek). In seinem berührenden Porträt Muratows und seiner „Nowaja Gaseta“ erzählt der Filmemacher Patrick Forbes, beide sind befreundet, vom Kampf mutiger Russen gegen die Kriegspropaganda unter Kremlchef Wladimir Putin. Wie „schädliche Strahlung“ funktioniere die Propaganda, sagt Muratow, der trotz „brutalster Zensur“ den Krieg nicht nur aus russischer Sicht zeigen will.

In Spielfilmlänge spannt Forbes in eindrucksvollen Bildern einen Bogen vom Schicksal der bedrohten Journalisten zu den blutigen Szenen von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Dabei will die Doku mit der von Putins Propaganda verbreiteten und auch im Westen beliebten Auffassung aufräumen, dass alle Russen den Krieg unterstützten. Er selbst ist – ungeachtet des überlebten Anschlags, bei dem seine Augen verätzt wurden – ein markantes Beispiel für jene Russen, die gegen den Krieg sind und dies auch kundtun. Muratow ließ im vergangenen Jahr seine Alfred-Nobel-Medaille versteigern, um mit dem Erlös durch das Kinderhilfswerk Unicef ukrainische Flüchtlinge zu unterstützen. Die Doku zeigt die spannende Auktion, bei der 103,5 Millionen US-Dollar (rund 97 Millionen Euro) geboten wurden – der höchste Preis, der jemals für eine Nobelpreismedaille gezahlt wurde. 2021 hatte Muratow mit der philippinischen Journalistin Maria Ressa den Friedensnobelpreis bekommen. Auch seinen Anteil am Preisgeld von mehr als 960.000 Euro spendete Muratow damals für soziale Zwecke.

Die vor 30 Jahren gegründete „Nowaja Gaseta“ habe es stets als ihre Aufgabe verstanden, Menschen in Not zu helfen. „Ich sehe nicht zu, ich mische mich ein“, sagt Muratow. Es ist sein Verständnis, dass Journalismus mehr leisten muss als nur zu sagen, was ist. Dabei haben Reporter und Reporterinnen der Zeitung ihren Kampf für eine Veränderung der Verhältnisse immer wieder mit dem Leben bezahlt. Die Doku ist nicht zuletzt eine Hommage an Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa, Anastassija Baburowa, Igor Domnikow, Juri Schtschekotschichin, Stas Markelow, die ermordet wurden. Ihre Porträts hängen in den Redaktionsräumen der „Nowaja Gaseta“. Zu sehen sind im Film auch eindringliche Momente der Trauer um die Opfer des Systems Putin. Erinnert wird nicht zuletzt an die vielen inhaftierten Kremlgegner wie Alexej Nawalny und Wladimir Kara-Mursa.

Muratow gewährt Einblicke, wie im Klima zunehmender Repressionen viele talentierte Mitarbeiter Russland verlassen haben. Für ihre Ausreise sorgt er demnach selbst in geheimen Verhandlungen. Viele von ihnen haben im Exil in der EU in der lettischen Hauptstadt Riga die Internetzeitung „Novaya Gazeta Europe“ gegründet. Unter Chefredakteur Kirill Martynow berichtet sie weiter über den Krieg in der Ukraine, aber auch über die Ereignisse in Russland – für die Leser dort, die das Land nicht verlassen können, weil ihnen etwa die Mittel fehlen. Während das Erscheinen der Zeitung in Russland eingestellt ist wegen der Kriegszensur, reißen die Kontakte der Exil-Journalisten zu Muratow nicht ab. Er wird immer wieder auf Reisen nach Riga oder in den Westen gezeigt, die er seit dem Anschlag vom vergangenen Jahr unter größter Vorsicht antritt. Muratows Kollegen und seine Tochter Finley kommen zu Wort, wie groß ihre Sorge um das Leben des Nobelpreisträgers ist.

Filmemacher Forbes geht der Frage nach, wieso Muratow nicht auf Mahnungen hört, das Land zu verlassen. Er bleibt an der Seite jener, die weiter in Russland kämpfen – wie die Investigativreporterin Jelena Milaschina und der Anwalt Alexander Nemow, die Anfang Juli in Tschetschenien im Nordkaukasus schwer misshandelt wurden. Muratow und sein Kollege Alexej Wenediktow, früher Chefredakteur des inzwischen aufgelösten Radiosenders Echo Moskwy, retteten die beiden mit einem Flugzeug – einer der Höhepunkte des Films.

Und dann ist da Muratows großes Vorbild Michail Gorbatschow – der Ex-Sowjetpräsident starb im vergangenen Jahr. Er hatte einst mit seinem Friedensnobelpreis-Geld die Gründung der „Nowaja Gaseta“ ermöglicht. Muratow würdigt als Gorbatschows größtes Verdienst, dass er Menschenrechte über alles und mit seinen nuklearen Abrüstungsinitiativen die Welt auch vor einem Atomkrieg bewahrt habe. Und er zeigt sich tief erschüttert, dass es passieren konnte, dass heute das „Fortbestehen der Menschheit“ am „Finger“ eines einzelnen Menschen hänge. Muratow meint, dass er es für möglich halte, dass Putin in seiner Konfrontation mit dem Westen um die Ukraine am Ende auch den Atomknopf drücken könnte. Seine Prognose: „Er wird seine Ziele bis zum Ende verfolgen, auch wenn es für ihn tragisch endet.“ (dpa/sc)

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