Angstforscher: Gewöhnungseffekt spielt Putin in die Hände

<p>Dieses von den ukrainischen Streitkräfte veröffentlichte Foto zeigt beschädigte russische Panzer auf einem Feld nach einem Angriffsversuch.</p>
Dieses von den ukrainischen Streitkräfte veröffentlichte Foto zeigt beschädigte russische Panzer auf einem Feld nach einem Angriffsversuch. | Foto: Uncredited/Ukrainian Armed Forces/dpa

Im Ukraine-Krieg spielt nach Einschätzung des Psychologen Jürgen Margraf ein Gewöhnungseffekt im Westen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in die Hände. „Als die russischen Truppen vor einem Jahr in die Ukraine vorrückten und die ersten Raketen einschlugen, waren wir alle schockiert“, sagte Margraf der Deutschen Presse-Agentur. Er erinnerte an die großen Demonstrationen, die es nach dem Beginn des Angriffskriegs am 24. Februar 2022 gegeben hatte. Inzwischen sei jedoch fast schon Normalität eingekehrt. Margraf, Humboldt-Professor und Leiter des Forschungs- und Behandlungszentrums für Psychische Gesundheit an der Universität Bochum, gilt als einer der führenden Angstforscher.

<p>Jürgen Margraf ist Humboldt-Professor und Leiter des Forschungs- und Behandlungszentrums für Psychische Gesundheit an der Universität Bochum.</p>
Jürgen Margraf ist Humboldt-Professor und Leiter des Forschungs- und Behandlungszentrums für Psychische Gesundheit an der Universität Bochum. | Foto: Alexander Basta/dpa

Es sei wissenschaftlich nachgewiesen, dass starke Gefühle aufgrund eines besonders positiven oder auch besonders negativen Erlebnisses nach einer gewissen Zeit wieder abklängen, sagte Margraf. „Man gewöhnt sich in den meisten Fällen auch an die ganz schlimmen Katastrophen im Leben. Nach einer gewissen Zeit ist man wieder auf dem Ausgangsniveau - egal was sich vorher ereignet hat.“ Dieser Mechanismus wirke auch in Bezug auf den Krieg.

Hinzu komme, dass der Schockeffekt des Unbekannten nach einiger Zeit nachlasse. Dass es mitten in Europa wieder Krieg gebe, sei anfangs als hochgradig verstörend empfunden worden. In dieser völlig ungewohnten Situation hätten die meisten Menschen ein starkes Informationsbedürfnis entwickelt, um die Lage besser einschätzen zu können. Dieses Stadium sei jetzt schon vorbei. Margraf verwies auf die stark zurückgegangenen Einschaltquoten für Sondersendungen, die mittlerweile auch viel weniger angeboten würden. Gewöhnung gehe immer mit nachlassendem Interesse einher. „Viele Leute sagen ja ganz offen: ‘Ich kann das mit der Ukraine langsam wirklich nicht mehr hören!’“

Man dürfe vermuten, dass Putin dieser Effekt bewusst sei. Möglicherweise spekuliere er auf das nachlassende Interesse westlicher Wählerinnen und Wähler. Damit einhergehen könne eine verringerte Bereitschaft, zur Unterstützung der Ukraine Einschränkungen im persönlichen Leben in Kauf zu nehmen. Es sei schwer, aber sicher nicht unmöglich, gegen diese psychologischen Prozesse anzugehen, sagte Margraf. „Putin legt ein klassisches Bully-Verhalten an den Tag“, sagte Margraf. „Ein Bully kann nur durch Stärke eingegrenzt werden - wahrgenommene Schwäche ist für ihn eine weitere Ermutigung zur Eskalation. Das müssen wir uns immer wieder klarmachen: Wenn wir uns diesem Bully nicht entschlossen entgegenstellen, macht der immer weiter.“

Dass viele Menschen trotz des Gewöhnungseffekts solchen Argumenten gegenüber aufgeschlossen seien, zeige die Haltung zu Waffenlieferungen an die Ukraine. Trotz anfänglich großer Skepsis werde die Lieferung von Kampfpanzern Umfragen zufolge inzwischen von einer Mehrheit unterstützt. (dpa/sc)

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