Sexuelle Gewalt: Dringender Reformbedarf im belgischen Justizwesen

<p>Eine Frau hält ihre Hände vor das Gesicht (Gestellte Szene):</p>
Eine Frau hält ihre Hände vor das Gesicht (Gestellte Szene): | Foto: picture alliance/dpa

Danièle Zucker, Spezialistin für kriminelle Verhaltensanalyse (insbesondere von Vergewaltigern), legt dar, dass nur 1 % der Täter verurteilt werden. Zwar würden Opfer in Belgien ermutigt, Anzeige zu erstatten. „Jedoch folgen keine Verurteilungen. Das ist pervers: Den Opfern sagen, sie sollen Anzeige erstatten, aber keine strafrechtlichen Konsequenzen vorsehen. Welch verheerendes Signal an die Gesellschaft. Wir müssen umdenken. Nicht morgen, sondern jetzt“. Danièle Zucker beschreibt die Dichotomie sehr treffend. Zwar wird seit Kurzem öffentlich über diese Themen gesprochen. Doch scheitern Kampagnen, die dazu ermutigen, Anzeige zu erstatten, an einem Justizsystem, das sich schwertut, Schritt zu halten. Diese erschütternden Tatsachen zeigen das Ausmaß eines Problems, das eine sofortige und tiefgreifende Reform des Justizsystems erfordert.

Im Kern der Problematik stehen zwei Hürden, die dringender Maßnahmen bedürfen. Erstens stellt die hohe Anzahl von Verfahren wegen sexueller Gewalt, die ohne weitere Folgen eingestellt werden, eine ernsthafte Beeinträchtigung des Zugangs zur Justiz dar. Zweitens verschlimmert die Doppelbestrafung der Opfer durch unangemessene Verhöre und Gerichtsverfahren, die bis zu fünf Jahre dauern können, ihr Trauma und hält sie davon ab, Anzeige zu erstatten. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist es zwingend erforderlich, sich auf gezielte Reformen zu konzentrieren. Zunächst einmal ist von entscheidender Bedeutung, die extrem lange Verfahrensdauer zu verkürzen, indem unter anderem die Koordination im Justizwesen verstärkt wird. Diese ist oftmals mangelhaft und beeinträchtigt die Qualität und Schnelligkeit der Verfahren. Zweitens bedarf es einer Verstärkung der verpflichtenden Schulungen für Justizakteure einschließlich der Polizei, der Experten der Staatsanwaltschaft, der Untersuchungsrichter und des Strafgerichtshofs. Leider werden ebensolche Schulungen oft vernachlässigt, hierunter auch die Schulungen für psychologische Experten, die die Einschätzungen von Tätern oder Opfern unangemessen zu beeinflussen drohen und so eine zusätzliche emotionale Belastung für die Opfer schaffen.

Fälle von sexueller Gewalt und der Umgang mit den Opfern erfordern aufgrund der für solche Übergriffe typischen emotionalen Reaktionen wie Scham, Angst und Ohnmacht eine besondere Behandlung, die durch Schulungen erheblich verbessert werden kann. Sich an guten Praktiken aus dem Ausland orientierend, könnte Belgien spezialisierte Gerichtsverfahren, unabhängige Meldemechanismen und wirksame Aufklärungsprogramme einführen. Solche Reformen würden den genannten Kernproblemen abhelfen, indem sie dazu beitragen, die Fälle von Verfahrenseinstellungen und Doppelbestrafungen für die Opfer zu verringern. Im weiteren Sinne ist die Mobilisierung der belgischen Gesellschaft durch öffentliche Bildungsprogramme von entscheidender Bedeutung, um Denkansätze zu ändern, die Achtung persönlicher Grenzen zu fördern und letztendlich die exorbitante Zahl der Opfer sexueller Gewalt zu senken.

Es ist unbestreitbar, dass in Belgien dringender Handlungsbedarf besteht. Eine Justizreform im Bereich der sexuellen Gewalt muss Priorität erhalten. Die notwendigen, tiefgreifenden Reformen sollten eine angemessene Unterstützung der Opfer umfassen und die klare Botschaft aussenden, dass sexuelle Gewalt in der belgischen Gesellschaft nicht länger toleriert und unsere Opfer nicht länger im Stich gelassen werden. Es ist an der Zeit, von der Bewusstseinsbildung zum aktiven Handeln überzugehen und unsere Anstrengungen auf konkrete Reformen zu konzentrieren, die sich mit den Problemen der Verzögerungen, der Verfahrenseinstellungen und der doppelten Bestrafung befassen und so eine gerechtere Justiz für alle gewährleisten.

*Mélodie Geurts, Mitglied der Freitagsgruppe und Mitbegründerin von Educonsent, einem gemeinnützigen Verein, der sich der Sensibilisierung und der Erziehung zur Zustimmung in allen Altersgruppen widmet.


Die Freitagsgruppe ist eine Denkfabrik der König-Baudouin-Stiftung. Sie vereint 25 junge Menschen aus Belgien mit dem Ziel, sich positiv in die gesellschaftspolitische Entwicklung des Landes einzubringen. 2024 feiert die Freitagsgruppe ihr 10-jähriges Jubiläum. Knapp 300 gesellschaftspolitische Empfehlungen haben die Mitglieder seither in 21 Berichten an die Politik gerichtet. Hinzu kamen zahlreiche Meinungsbeiträge in den belgischen Tageszeitungen und die Durchführungen eigener Podiumsdebatten. Das Grenzecho gehört neben „L’Echo“ und „Knack“ zu den Medienpartnern der Freitagsgruppe.

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