Deutschland fragt sich: Gehen der „Ampel“ die Lichter aus?

<p>Bundeskanzler Olaf Scholz</p>
Bundeskanzler Olaf Scholz | Foto: Kay Nietfeld/dpa

So hatte sich Olaf Scholz seinen Besuch beim EM-Spiel der deutschen Handballer gegen Nordmazedonien wohl nicht vorgestellt: Kaum hatte der Stadionsprecher den Bundeskanzler offiziell begrüßt, gellte ein Pfeifkonzert durch die Mercedes-Benz Arena in Berlin. „Ich war froh, dass wir dann relativ schnell ein Tor erzielt haben, um den Fokus aufs Sportliche lenken zu können“, sagte der Sportvorstand des Deutschen Handballbundes, Axel Kromer, im Anschluss an die Partie, die die Gastgeber mit 34:25 gewannen.

Der Kanzler als „Buhmann der Nation“, so kommentierten es Medien. Gut zwei Jahre nach dem Amtsantritt des SPD-Regierungschefs im Dezember 2021 sind seine Zustimmungswerte und die der „Ampel“-Koalition aus Sozialdemokraten, Liberalen (FDP) und Grünen auf Tiefstwerte abgesackt. Aktuell kämen die drei Regierungsparteien laut diverser Umfragen nur noch auf zusammen rund 31 Prozent. Mit Scholz sind laut einer Umfrage des Instituts Ipsos nur noch 10 Prozent der Bürger „sehr zufrieden“, 57 Prozent hingegen „sehr unzufrieden“.

Es gärt in Deutschland. Mit Traktordemonstrationen legten kürzlich die Landwirte den Verkehr in Berlin und anderswo lahm. Sie sind verärgert, weil ihnen die „Ampel“ die Subventionen auf den Agrardiesel kürzt, um den Staatshaushalt zu sanieren. Anders als die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ mit ihren Straßenblockaden fanden die Bauern viel Sympathie in der Bevölkerung. In dieser Woche sind es die Lokomotivführer, die mit einem Streik gegen den Staatskonzern Deutsche Bahn das Land in Atem halten.

Wenig Ergebnisse und viel Streit

Wirtschaftlich tritt Europas größte Volkswirtschaft auf der Stelle. Mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,3 Prozent rutschte Deutschland voriges Jahr in die Rezession, für dieses Jahr rechnet der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) mit einem „marginalen Wirtschaftswachstum“ von 0,3 Prozent. Im Vergleich zu den meisten anderen Industrieländern falle das Land weiter zurück. Die deutsche Politik habe sich „in eine Komplexitätsfalle manövriert.“

Auf verschiedenen Feldern, etwa beim Wohnungsbau oder dem Ausbau der erneuerbaren Energien, bleibt die „Ampel“, die 2021 als „Fortschrittskoalition“ angetreten war, hinter ihren Wahlversprechen zurück. Negativschlagzeilen macht sie auch immer wieder mit Streitereien zwischen den politisch ungleichen Partnern in dem Bündnis aus Mitte-Links (SPD, Grüne) und Mitte-Rechts (FDP).

Besonders besorgt die Deutschen aber das Thema Migration, nachdem die Zahl der Asylbewerber 2023 im Vorjahresvergleich um fast die Hälfte auf mehr als 350000 gestiegen ist. Laut ARD-Deutschlandtrend ist Zuwanderung für die meisten Deutschen derzeit das wichtigste politische Thema, und fast zwei Drittel finden, dass Deutschland durch Zuwanderung mehr Nachteile als Vorteile habe.

Davon profitiert anscheinend die rechtspopulistische AfD. Seit der Bundestagswahl 2021 hat sie ihre Zustimmungswerte auf nationaler Ebene mit jetzt um die 22 Prozent mehr als verdoppelt. Sie ist zweitstärkste Kraft hinter den Christdemokraten von Oppositionsführer Friedrich Merz und könnte bei den Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September sogar stärkste Kraft werden. Ob die jüngsten Großdemonstrationen gegen Rechtsextremismus in vielen deutschen Städten daran etwas ändern, ist fraglich.

Hält die Koalition noch durch?

„Es kann sein, dass die Kanzlerschaft von Olaf Scholz nicht mehr zu retten ist“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ in einem Kommentar. In Medien machten schon Spekulationen über einen „Kanzlertausch“ die Runde. Der unbeliebte Scholz könnte durch Verteidigungsminister Boris Pistorius ersetzt werden, den beliebtesten Regierungspolitiker, hieß es. Bei der Wahl eines neuen Regierungschefs müssten aber alle drei „Ampel“-Partner im Bundestag mitziehen.

Der stellvertretende FDP-Chef Wolfgang Kubicki äußerte bereits Zweifel, ob die Koalition bis zur nächsten Bundestagswahl hält, die eigentlich im Spätsommer oder Herbst 2025 ansteht. „Der Spirit, der zum Start der Ampel da war, löst sich auf. Es ist für viele Menschen keine gemeinsame Richtung mehr erkennbar“, sagte Kubicki den „Nürnberger Nachrichten“.

Oppositionspolitiker fordern Neuwahlen. Allerdings kann sich der Bundestag in Deutschland nicht selbst auflösen. Neuwahlen wären nur möglich, wenn Scholz im Parlament eine Vertrauensfrage verliert. Die FDP könnte bei Bundestagswahlen an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, SPD oder Grüne würden sich womöglich danach als Juniorpartner in einer von der CDU/CSU geführten Regierung wiederfinden.

Der britische „Economist“ kritisierte derweil, dass Deutschland unter Scholz seine Führungsfunktion in Europa nicht mehr wahrnehme - anders als zu Zeiten der langen Kanzlerschaften von Helmut Kohl (CDU, 1982-1998) und Angela Merkel (CDU, 2005-2021).

Der jetzige Kanzler sei nahezu unsichtbar. „Eine Google-Suche zeigt, dass Deutschlands Regierungschef ein Mann namens Olaf Scholz ist, aber er gibt eine so farblose und wenig beeindruckende Figur ab, dass man es Ihnen nachsehen würde, es nicht zu wissen“, spottete das Londoner Blatt.

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