Die „Bild“-Zeitung wird 65

„Bild“ sollte die „gedruckte Antwort auf das Fernsehen“ sein. Heute sucht Deutschlands meistverkaufte Zeitung ein neues Selbstverständnis und immer wieder nach der richtigen Schlagzeile.

Die Hochzeit von Vanessa Mai oder die Story über die Salafisten, die beim IS in Syrien Sozialhilfe kassierten? Vor solchen Entscheidungen steht die „Bild“-Zeitung immer wieder. Promi-Sause oder harte Realität – auch in der Wahl der richtigen Schlagzeile versucht das Boulevardblatt eine neue Positionsbestimmung. An diesem Samstag (24. Juni) hat die „Bild“ ihren 65. Geburtstag.

Julian Reichelt lässt dazu neuerdings Kollegen befragen. „Alle „Bild“-Mitarbeiter über 50 Jahre bekommen jeden Tag per Mail zwei bis drei Schlagzeilen und entscheiden, für welche sie Geld bezahlen würden“, sagt Reichelt (37), seit Februar gesamtverantwortlicher Chefredakteur der „Bild“-Marke, zu der unter anderem auch „Bild.de“, „Bild am Sonntag“ („BamS“) und „B.Z.“ gehören.

Zwar liege er mit der Vorauswahl meistens richtig. Doch Reichelt weiß auch: Die „Bild“-Macher von heute sind zum Teil wesentlich jünger als die Durchschnittsleser, die Lebensrealitäten decken sich nicht unbedingt. „In der Gruppe der über 50-Jährigen haben wir den größten Korrekturbedarf.“ Deutschlands meistverkaufte Zeitung will ihr Profil schärfen.

Dogma von früher gilt heute nicht mehr

Das hat viel mit dem Internet zu tun, aber nicht nur. „Wir Journalisten sind von der Mentalität geprägt, man müsse auf das Bauchgefühl hören, auf Gespür und eigene Einordnung. Das hat auch lange gut funktioniert“, sagt Reichelt. „Das Dogma stammt aus einer Zeit, als wir als Zeitungen fast Informationsmonopolisten waren.“ Diese Zeiten seien vorbei. „Seitdem die Menschen etwa mit dem Smartphone ihren eigenen, globalen Verteilmechanismus haben, sind die Zahlen eingebrochen.“

Lange hätten sich die Journalisten „wahnsinnig geistreich, schlau, scharfzüngig“ gefühlt. „Dass es inzwischen schon andere Informationsquellen gab, haben wir uns lange nicht eingestanden“, sagt Reichelt.

Über Jahrzehnte sonnte sich „Bild“ im Glanz steigender Auflagen. Noch zum 60. Geburtstag wurde die gedruckte Ausgabe täglich 2,7 Millionen Mal verkauft. Fünf Jahre später kaufen rund 1,78 Millionen Menschen täglich „Bild“, „B.Z.“ und „Fußball Bild“. Die Reichweite, also die Zahl der Leser, liegt bei 38,5 Millionen Menschen – über alle Plattformen hinweg.

„Wir haben so viele Leser wie nie zuvor“, sagt Reichelt. Die „gedruckte Antwort“ auf das Fernsehen, wie Axel Springer das 1952 erstmals erschienene Blatt definierte, hat sich längst neue Erlösquellen erschlossen.

Zwar sei die Zahl der Menschen, die für „Bild“ bezahlen, kleiner geworden. „Über „Bild plus“ haben wir die Auflagenverluste nicht ganz abgefedert“, sagt Reichelt, der bereits Chefredakteur Bild Digital war, als er im Februar Vorsitzender der „Bild“-Chefredaktionen wurde. Dank der kostenpflichtigen Plattform könne die Marke „Bild“ aber mit 360.000 zahlenden Nutzern inzwischen als größte Abo-Zeitung in Deutschland betrachtet werden.

Längst sei die Rolle des „Agenda Setters“, des Leitmediums, das die Themen setzt, von der gedruckten „Bild“ zu „Bild.de“ übergangen, sagt der Hamburger Medienwissenschaftler Stephan Weichert. Das habe auch mit Reichelts Rolle zu tun, der mit pointierten Meinungen auch in den wichtigen Talkshows präsent sei. „Da ist eine neue Offenheit zu erkennen, die mit dem Kampagnen-Journalismus der 70er- und 80er Jahre nichts mehr zu tun hat.“

Tatsächlich bot sich „Bild“ auch immer wieder als Reibungsfläche der Nation an, auch durch das Engagement von Verleger Axel Springer für die deutsche Einheit. Gegen die Zeitung protestierte die Studentenbewegung der 60er-Jahre. Sie warf dem Blatt vor, mit Schlagzeilen wie „Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt“ das politische Klima anzuheizen. Nobelpreisträger Heinrich Böll rechnete mit „Bild“ in seinem Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ ab, Günter Wallraff schlich sich 1977 in die Redaktion von „Bild“-Hannover ein und enthüllte fragwürdige Recherchemethoden.

Bürgerliche Mitte

Unter dem langjährigen „Bild“-Chef Kai Diekmann legte die Zeitung dann das Image als Hausorgan des „kleinen Mannes“ ab. Längst versteht sich „Bild“ als Teil der bürgerlichen Mitte. Immer wieder war „Bild“ aber auch der Kritik ausgesetzt, medialen Populismus zu betreiben. Schlagzeilen wie „Wir sind Papst!“ gingen in den Sprachgebrauch über, Schlagzeilen gegen die „Pleite-Griechen“ stießen nicht nur in Athen auf Protest.

Auch „Bild“ blieb nicht von „Lügenpresse“-Schmähungen verschont. Das Blatt stand der „Willkommenskultur“ im Sommer 2015 grundsätzlich positiv gegenüber. Der Euphorie sei aber bald Ernüchterung gefolgt, sagt Reichelt, etwa nach den sexuellen Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln. „Wir müssen uns eingestehen, dass die Menschen Klärungsbedarf haben.“ Und die Zeiten, in denen kein öffentlicher Widerspruch möglich gewesen sei, seien in der Ära der sozialen Medien endgültig vorbei.

Medienexperte Weichert stellt einen Kulturwandel bei „Bild“ fest. Das Blatt wolle nicht mehr politisch erziehen. „Die Redaktion berichtet viel weniger ressentimentgeladen und impulsiv“. Junge Leser interessierten sich ohnehin nicht mehr so sehr für das politische Klein-Klein, sondern für die gesellschaftspolitischen Verhältnisse insgesamt. Das sei auch bei den Diskussionen um die AfD oder den US-Präsidenten Donald Trump deutlich geworden.

„Bild, BamS und Glotze“ – mehr brauche er nicht zum Regieren, hatte einst der frühere Kanzler Gerhard Schröder (SPD) gesagt. Auch diese Zeiten sind wohl endgültig vorbei. „Die autorisierten Interviews, chemisch gereinigt und bis zum letzten Komma vom Interviewpartner durchgesehen, wollen wir nicht mehr haben“, sagt Reichelt. „Wir fragen uns sowieso, ob das Interview noch ein zeitgemäßes Genre ist oder wir nicht viel mehr wie die angelsächsische Presse die Zitate in einen Kontext stellen.“

Ob es in fünf Jahren die gedruckte „Bild“ noch geben wird? „Klares Ja“, sagt Reichelt. Er wolle alles unternehmen, um den Auflagenverfall zu bremsen – mit Journalismus. „Es kann sein, dass es am Ende nicht reicht, aber wir müssen es versuchen.“ Übrigens: Bei der internen Umfrage entschied sich die Mehrheit für die Schlagzeile mit den Salafisten und gegen Vanessa Mai.