Reemtsmas Entführung aus Sicht des Sohnes



Der 13-jährige Johann wacht auf mit der Ankündigung seiner Mutter in ungewohnter Stimmlage, man müsse „jetzt gemeinsam ein Abenteuer bestehen“: „Jan Philipp ist entführt worden. Die Entführer wollen zwanzig Millionen Mark.“.

Briefe vom Vater aus dessen Verlies

Als 35-Jähriger hat Johann Scheerer die 33 Tage bis zur Freilassung seines Vaters Jan Philipp Reemtsma nun in Buchform erzählt.

Sie werden ihn so oder so umbringen, geht es ihm in diesen Frühlingswochen 1996 immer und immer wieder durch den Kopf, während der Vater verzweifelte Briefe aus seinem Verlies schickt, zwei vereinbarte Geldübergaben durch Tölpeleien der Polizei scheitern, Freunde der Familie als Helfer entnervt das Handtuch werfen und die Kidnapper mit der Verstümmelung ihres Gefangenen drohen.

Als allererstes Gefühl nach den Worten der Mutter Ann-Kathrin Scheerer notiert der Autor Erleichterung über die nunmehr sichere Umgehung der Lateinarbeit in der Schule. Es wird blitzartig abgelöst von schlechtem Gewissen: Warum nur war er am Tag vorher beim gemeinsamen Üben so genervt vom „penetrant schlauen Vater“?

Ein paar Stunden später hat sich in der Stube der Familienvilla in Hamburg-Blankenese der Krisenstab mit Polizeiexperten, unendlich viel Technik zur Telefonüberwachung sowie auch zwei Angehörigenbetreuern installiert.

„Wir sind dann wohl die Angehörigen“, folgert der Sohn und wird hier fortan den chaotischen Kampf um die Rettung seines Vaters miterleben. Aus der Perspektive eines 13-Jährigen an der ziemlich komplizierten Schwelle zwischen Kindheit, Jugend und der sich hier so extrem brutal aufdrängenden Erwachsenenwelt.

Die Entführung des Literatur- und Sozialwissenschaftlers Reemtsma, steinreich durch Verkauf seines Erbes aus der größten deutschen Tabakdynastie, war eines der spektakulärsten Verbrechen der bundesdeutschen Geschichte.

Der Bericht des Sohnes, heute Betreiber des Hamburger Musikstudios Clouds Hill und selbst Vater, präsentiert sich als „Roman“.

Nirgendwo aber scheint er angereichert mit Fiktion und bleibt auch sonst angenehm frei von literarischen Kunstgriffen.

Trotzdem lesen sich die 230 Seiten spannend wie ein guter Roman mit hoher psychologischer Dichte und hochinteressanten Figuren.

Verzweifelte Vorstellungen

Scheerer ist auch nach 22 Jahren offenbar oder vielleicht scheinbar mühelos in der Lage gewesen, das Ungeheuerliche der Gewalttat gegen seinen Vater genauso klar und unsentimental aus der Erlebniswelt jener Wochen nachzuerzählen wie das Wirken ganz anderer, durchaus auch gegen den Vater gerichteten innerer Kräfte. So ist es ja eben in dieser Phase des Lebens, wenn sich der Wunsch nach Abgrenzung und Eigenständigkeit immer mächtiger in Kopf und Bauch meldet.

Dieser Sohn hat eindrückliche Geschichten parat vom „Leben als Kind mit meinem Vater, der in einem Buch verschwand, sobald sich die Gelegenheit bot“. Der väterliche Bücherwurm, im Alltag recht distanziert und körperlicher Nähe wenig zugetan, war für Johann auch in Fahrstühlen schwer erreichbar, weil er für diese Fälle stets ein kleines gelbes Reclambändchen parat hatte. Angekettet in seinem Kellerversteck nun schrieb Reemtsma viel von seiner Liebe und schlug dem Sohn im verzweifelten Bemühen um Nähe vor, sich ein Buch vorzunehmen, über das er selbst auch verfügte: „Wir beide nehmen uns jeden Tag um 17 Uhr die ‚Chronik des 20. Jahrhunderts‘ vor und sehen nach, was von 1900 bis 1995 an diesem Tag (Datum) passiert ist. Das machen wir gleichzeitig.“

Die Liebesbekundungen fand der Sohn befremdlich, und über die „Chronik“ notiert er, er habe wohl nie oder „vielleicht einmal halbherzig“ hineingeschaut. Schuldgefühle plagten ihn auch und noch Jahre später, weil sein Inneres die briefliche Bitte des wohl todgeweihten Vaters, er möge ein bestimmtes Lied der Band „Die Ärzte“ für ihn spielen, unerbittlich zurückwies: „Die Musik der Ärzte zu hören gab mir eine Vorstellung davon, wie es sein musste, ein eigenes Leben zu haben.“ Dieser intime Einblick in die höchst private Seite der im Großen extrem öffentlich gewordenen Entführungsgeschichte ist weder Mitleid heischend noch Coming-Of-Age-Geschichte auf Kosten des Vaters. So war es wohl einfach. Scheerer hat immer die verzweifelte Lage des Entführten als Zentrum der Geschichte im Visier, wenn er als kluger Erwachsener, aber ohne Kommentar nacherzählt, was im zerrissenen Jungen mit 13 vor sich ging. Für groteske Randgeschichten hat er ein gutes Auge und erzählt sie mit leisem Humor und immer stilsicher: Wenn Johann seinen Schulranzen wahnsinnig schwer findet, weil er aus Versehen die Sporttasche mit den bereitliegenden 30 Millionen D-Mark Lösegeld unter der Bank vorzieht. Die Entführer hatten den Preis heraufgesetzt.

„Das einzige Mittel gegen ungewollte Intimität ist Veröffentlichung“, hatte Reemtsma selbst sein kleines Buch „Im Keller“ über das eigene Erlebnis begründet, das schon ein Jahr danach herauskam. Um Distanz zu schaffen, erzählte er teilweise in der dritten Person, so auch von der ultimativen inneren Demütigung mit seinem Wunsch, dass ausgerechnet „der Entführer ihn trösten (solle), ihn berühren, die Hand auf seine Schultern legen“.

Als Leser gepackt und fasziniert

Der Sohn will sich mit seiner Version der ganz anderen Erlebnisse als Angehöriger, wie er in Interviews bestätigt hat, von vielen Jahren des Schweigens, auch in der eigenen Familie, „freischreiben“.

Ob ihm das für die eigene Person gelungen ist, kann nur Scheerer selbst entscheiden. Man ist als auf jeder Seite gepackter Leser auch fasziniert, weil er sich für diesen Anlauf genau das Medium ausgesucht hat, mit dem sein Vater bis zur Entführung enorm lange Schatten über den Sohn geworfen hatte. (dpa)

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