Das Tabu der männlichen Unfruchtbarkeit brechen

<p>Wenn es einfach nicht klappt mit dem Kinderwunsch: Unfruchtbarkeit ist häufig noch ein Tabuthema.</p>
Wenn es einfach nicht klappt mit dem Kinderwunsch: Unfruchtbarkeit ist häufig noch ein Tabuthema. | Foto: picture alliance/dpa/dpa-tmn

In Europa und in den meisten Industrieländern ist die Fertilität, die als Fähigkeit, Kinder zu bekommen, definiert wird (im Unterschied zur Geburtenrate, die ebenfalls den Wunsch der Menschen berücksichtigt), rückläufig. In Bezug auf die Umwelt wird ein Zusammenhang mit endokrinen Disruptoren und chemischen Schadstoffen hergestellt, die in unserem Alltag allgegenwärtig sind. Auch gesellschaftliche Faktoren spielen eine Rolle. Der Wandel der Sitten beispielsweise führt dazu, dass sich das Durchschnittsalter für die Elternschaft nach hinten verschiebt. Während der Höhepunkt der Fruchtbarkeit im Alter von 20 Jahren erreicht wird, liegt die erste Mutterschaft heute nicht selten jenseits der 30. Auch unsere sitzendere Lebensweise spielt eine Rolle. Insbesondere für Männer ist die Situation alarmierend: Die durchschnittliche Spermienkonzentration hat sich beispielsweise in den letzten 50 Jahren halbiert. Sie sinkt weiterhin um fast ein Prozent pro Jahr, wobei sich das Tempo beschleunigt. Wissenschaftler sprechen in Anlehnung an die biblische Katastrophe vom „Spermaggedon“.

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François-Guillaume de Lichtervelde | Foto: privat

Obwohl die Ursachen für Unfruchtbarkeit vielfältig und komplex sind, zeigen die Statistiken eine recht ausgeglichene Verteilung des Problems zwischen Männern und Frauen. In den Industrieländern hat eines von sechs Paaren Probleme mit der Empfängnis. Die Hälfte davon ist auf ein Problem beim Mann zurückzuführen. Trotz dieser Feststellung beginnt die Diagnose häufig bei der Frau. So wird geschätzt, dass bei einem Viertel der ersten Fruchtbarkeitskonsultationen die Untersuchung des Mannes ausgelassen wird. Frauen gehen gewöhnlich zum Gynäkologen, aber wie viele Männer gehen zum Urologen oder wissen überhaupt, was ein Androloge ist? Der asymmetrische Fokus auf das Thema ist frappierend.

Der Grund dafür ist das Tabu, das männliche Unfruchtbarkeit umgibt. In vielen mythologischen Traditionen und Religionen wird Fruchtbarkeit eng mit Männlichkeit in Verbindung gebracht. Im kollektiven Unterbewusstsein gilt ein Mann, der nicht fruchtbar ist, als Versager. Dieses symbolische Erbe macht es manchmal schwierig, das Thema Unfruchtbarkeit anzusprechen, sei es auf persönlicher Ebene, in der Gesellschaft oder sogar beim Arzt. Während dem weiblichen Körper von der Pubertät bis zur Menopause viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, ist die Hygiene und reproduktive Gesundheit von Jungen bis heute ein relatives Nicht-Thema. Die Initiativen zur Aufklärung über die Sexualität von Jugendlichen befassen sich oftmals mit der Prävention, aber wenig mit der Fruchtbarkeitsproblematik. Es wird also eher erklärt, wie man eine Schwangerschaft vermeiden kann, als wie man sie erfolgreich herbeiführt.

Die männliche Unfruchtbarkeit ist jedoch in vielen Fällen weitaus leichter zu behandeln als ihr weibliches Pendant. Im Gegensatz zur ovariellen Reserve, die bei der Geburt festgelegt wird und daher begrenzt ist, erneuert sich das Sperma das ganze Leben lang. Es ist bekannt, dass eine gesunde Lebensweise wichtige Schlüsselfaktoren wie die Beweglichkeit und Morphologie der Spermien beeinflussen kann, die für viele Fälle von Unfruchtbarkeit verantwortlich sind. Für komplexere Fälle, z. B. bei genetischen Problemen, gibt es Lösungen. Eine frühere Diagnose könnte daher auf mehreren Ebenen von Vorteil sein.

Eine medizinische Priesterschaft

Für viele werdende Eltern ist es ein langer und steiniger Weg, die Ursache für ihre Unfruchtbarkeit zu finden. In Belgien gilt ein Paar nach einem Jahr erfolgloser Versuche als unfruchtbar. Wenn es sich für einen Arztbesuch entscheidet, wird zunächst eine Reihe von medizinischen Untersuchungen durchgeführt. Wenn ein Problem festgestellt wird, kann das Paar die Techniken der medizinisch unterstützten Fortpflanzung heranziehen. Von der hormonellen Stimulation über künstliche Befruchtung bis hin zur In-vitro-Fertilisation bedarf es dann mehrerer Versuche, bevor auch nur ein lebensfähiger Embryo entsteht. Danach kann es zu einer oder mehreren Fehlgeburten kommen. Vielleicht kommt es schließlich zu einer erfolgreichen Schwangerschaft.

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Dr. Willem Verpoest | Foto: privat

Vom Kinderwunsch hin zu seiner Erfüllung oder zur traurigen Feststellung, dass ein Kind aus natürlichen Gründen nicht möglich ist, können viele Jahre vergehen. Wenn sich ein Paar für den Weg der Adoption entscheidet, erwartet es ein weiteres Priestertum, dieses Mal ein administratives. Psychologisch gesehen sind all diese Prozesse sehr belastend. Die Paare schwanken von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr zwischen Hoffnung und Hilflosigkeit. Trotz der hervorragenden Unterstützung durch die Ärzteschaft verstärkt das gesellschaftliche Tabu, das das Thema Unfruchtbarkeit umgibt, die mit diesen Erfahrungen verbundenen Leiden.

Die medizinische Betreuung bei Unfruchtbarkeit hat in den letzten 30 Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. In Belgien verfügen wir über Exzellenzzentren für Forschung und Betreuung, die weit über unsere Grenzen hinaus strahlen. Die verschiedenen verfügbaren Behandlungen werden außerdem im Vergleich zu unseren Nachbarländern relativ gut von der Sozialversicherung erstattet. Angesichts der Statistiken könnten also mehr dieser Situationen vermieden werden, wenn die männliche Unfruchtbarkeit entmystifiziert würde. Eine frühzeitigere Diagnose beim Mann könnte die Belastungen betroffener Paaren lindern und sogar Kinderpläne erfüllen.

Ein einfacher Schritt wäre es, andrologische Untersuchungen wie das Spermiogramm zu standardisieren. Im Vergleich zu gynäkologischen Untersuchungen und Behandlungen ist das Spermiogramm minimalinvasiv, einfach durchzuführen und kostengünstig. In Verbindung mit einer allgemeinen Gesundheitsuntersuchung und einigen Anpassungen des Lebensstils könnte bereits diese einfache Maßnahme die Zeugungsaussichten für die betroffenen Paare sehr deutlich verbessern. Eine gute reproduktive Gesundheit des Mannes ist auch ein entscheidender Faktor für den Verlauf einer Schwangerschaft, da sie das Risiko von Fehlgeburten, Frühgeburten und anderen Entwicklungsstörungen beim Neugeborenen verringert.

Wenn ein strukturelles Problem erkannt wird, gibt es auch vorbeugende Maßnahmen, wie das Einfrieren von Spermien. Ähnlich wie das Einfrieren von Eizellen bei Frauen können diese Maßnahmen die Empfängnisfähigkeit erhalten, die sich im Laufe der Zeit verschlechtern, wenn nicht sogar gefährden würde. Aufgrund des geringen Problembewusstseins wird der Nutzen dieser Technik jedoch häufig durch eine späte Diagnose gemindert. Natürlich ist es wichtig, die Auswirkungen einer Unfruchtbarkeitsdiagnose auf den Einzelnen, ob Mann oder Frau, im Auge zu behalten. Mit der Zunahme von genetischen und polygenen Tests kann der Zugang zu einer großen Menge an Informationen über unsere Gesundheit und deren mögliche Entwicklung Besorgnis auslösen und zu Behandlungen führen, ohne dass immer ein klarer Kausalzusammenhang besteht.

Wir sollten zumindest den Mut haben, eine offene Diskussion über männliche Unfruchtbarkeit zu fördern und Männer zu ermutigen, einen Spezialisten aufzusuchen. Die Gesellschaft als Ganzes muss sich bewusst werden, dass Unfruchtbarkeit nicht nur ein Frauenthema ist. Dazu muss das Thema enttabuisiert werden, sei es in der Partnerschaft, in der Familie, unter Freunden oder beim Arzt. Viele unserer Angehörigen sind betroffen, trauen sich aber nicht immer, darüber zu sprechen. Es liegt an uns, uns zu trauen, dieses wichtige Thema zu entmystifizieren. So kann man Paaren helfen, diese Hürde zu überwinden und ihren Traum von der Familiengründung zu verwirklichen.


François-Guillaume de Lichtervelde ist Mitglied der Freitagsgruppe und tätig beim Start-up-Unternehmen Greenomy. Der Gynäkologe Dr. Willem Verpoest ist Professor für Reproduktionsmedizin an der UMC Utrecht und Präsident der Belgischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin. Die Freitagsgruppe ist eine Denkfabrik der König-Baudouin-Stiftung. Sie vereint 25 junge Menschen aus Belgien mit dem Ziel, sich positiv in die gesellschaftspolitische Entwicklung des Landes einzubringen. 2024 feiert die Freitagsgruppe ihr 10-jähriges Jubiläum. Zahlreiche gesellschaftspolitische Empfehlungen haben die Mitglieder seither an die Politik gerichtet. Hinzu kamen zahlreiche Meinungsbeiträge in belgischen Tageszeitungen und die Durchführungen eigener Podiumsdebatten. Das GrenzEcho gehört neben „L’Echo“ und „Knack“ zu den Medienpartnern der Freitagsgruppe.

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