Murray als „Stolz von Schottland“

2016 war das Jahr des Andy Murray. In der zweiten Saisonhälfte ist der Schotte beinahe nicht mehr zu schlagen. | afp


Die Gesichtszüge von Boris Becker wirkten eine gefühlte Ewigkeit wie eingefroren. Die Zeit schien still zu stehen für den 48-Jährigen, als er die Siegerehrung des neuen Weltmeisters Andy Murray in der Londoner o2-Arena fast regungslos beobachtete.

Möglicherweise lief ein Film vor seinen Augen ab. Vielleicht schwang in diesen Momenten schon ein Stückchen Wehmut mit, denn Beckers Zukunft als Coach von Novak Djokovic scheint nach drei erfolgreichen gemeinsamen Jahren ungewisser denn je. „Nein, nicht jetzt“, sagte der hoffnunglos unterlegene Serbe nach dem 3:6, 4:6 im Endspiel des ATP-Saisonfinals gegen Murray auf die Frage, ob er etwas in Sachen Trainer zu verkünden habe. Dann schmunzelte Djokovic – und verteilte gewissermaßen als „Chocovic“ glutenfreie Pralinen an die Medienvertreter.

Seinem Dauerrivalen Andrew Barron Murray, Träger des Britischen Verdienstordens OBE (Order of the British Empire), servierte „Nole“ nach der gefühlten Wachablösung noch ein ultimatives Lob. „Andy ist definitiv der beste Spieler der Welt. Er steht zum Jahresende zu recht da oben“, sagt der entthronte Djokovic über den Branchenführer, der 2016 unter anderem in Wimbledon sowie bei den Olympischen Spielen in Rio triumphierte – und im Saisonendspurt 24 Matches in Folge gewann. „Das alles ist etwas, was ich so nie erwartet hätte“, sagte Murray.

Mit einem neuen persönlichen Bestwert von 12.685 Punkten überwintert der Olympiasieger von Rio nun auf dem Tennis-Thron. Damit steht er fast 1.000 Zähler vor Djokovic, der die Rückkehr auf Platz eins mit dem verlorenen Finale bei der ATP-WM verpasste. „Eigentlich dachte ich, dass ich erst Anfang nächsten Jahres eine Chance auf Platz eins im Ranking haben würde“, sagte der erstaunte Murray. Dass er seinen serbischen Widersacher schon jetzt überholt hat, gibt ihm glänzende Perspektiven für das Jahr 2017: Während Murray in der ersten Jahreshälfte nicht viele Punkte zu verlieren hat, muss Djokovic bei den Australian Open, den French Open, in Indian Wells und Miami jeweils den Titel verteidigen, um keine weiteren Zähler einzubüßen.

Aus dem ewigen Zweiten ist längst ein Siegertyp geworden.

Bis zum Wimbledon-Turnier im kommenden Juli dürfte der Schotte also kaum vom Top-Platz zu verdrängen sein. „Epischer Start in das Jahr von Novak, episches Finish in diesem Jahr von Andy“, twitterte der sechsmalige ATP-WM-Sieger Roger Federer.

Aus dem ewigen Zweiten, der als Kind einen Amoklauf an seiner Schule in Dunblane überlebte, ist längst ein Siegertyp geworden, und aus den „Fab Four“, den fantastischen Vier mit Roger Federer, Rafael Nadal, Djokovic und Murray, ein Duo, das sich um die wichtigsten Titel balgt. In fünf Finals standen sich der „Djoker“ und der „Highlander“ 2016 gegenüber – zweimal gewann Murray, der im abschließenden ATP-Ranking knapp viermal so viele Punkte hat wie der Weltranglistenneunte Nadal und über sechsmal so viele Zähler wie Federer (Nr. 16).

„Stolz von Schottland“, postete Murrays Mutter Judy nach dem grandiosen Jahresabschluss ihres Sohnes euphorisch, während die Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling über das „Andy-Märchen“ twitterte: „Ich hatte fast vergessen, wie es ist, wenn ein Mensch gewinnt, dem man es wirklich, wirklich wünscht.“

Die Daily Mail adelte den Weltmeister und Davis-Cup-Gewinner von 2015 nach „seiner Machtdemonstration“ und schrieb: „Murray zerstörte Djokovic und beendete die Diskussion, wer der beste Tennisspieler des Planeten ist.“

Und der einst so farblose Murray, der passenderweise 2016 erstmals Vater wurde, kann mittlerweile begeistern. Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon jubelte über ihren „Tennis-König“: „Was für eine Legende“. Es spricht für Murray, dass er in den Momenten des Triumphs auch an die Rivalen von einst dachte. „Unser Sport wäre in einer noch besseren Situation, wenn Roger und Rafa bald wieder da wären. Sie sind sehr charismatisch und haben ein großes Fanlager“, sagte er über die verletzten Kontrahenten Federer und Nadal.

Doch Murray weiß auch, dass der Schweizer und der Spanier ein Stück Vergangenheit sind. Das Duell der Gegenwart und der näheren Zukunft heißt: Murray vs Djokovic. „Ich bin dankbar, ein Teil davon zu sein“, betonte der stolze Schotte, der (noch) nichts von einer bevorstehenden „Murray-Ära“ wissen will: „Daran denke ich nicht. Ich will einfach versuchen, aus den nächsten Jahren die besten meiner Karriere zu machen.“

Es klang wie eine Warnung an „Chocovic“ & Co. (dpa/sid)