Ist Nainggolan-Entscheidung konsequent und mutig oder einfach nur blöd?

Allan Bastin: „Das ist ein Desaster“

„Es hätte ein Fest sein sollen, doch es gleicht mehr einem königlichen Begräbnis.“ RTBF-Kommentator Rodrigo Beenkens trifft den Nagel auf den Kopf. Roberto Martinez‘ Entscheidung, Radja Nainggolan zu Hause und nicht in den Flieger nach Russland steigen zu lassen, sorgt im Land für eine Welle der Empörung. Zurecht, denn welche Fußballnation kann es sich schon erlauben, auf einen der besten Mittelfeldspieler der Welt zu verzichten? Ein Beispiel bzw. eine Frage: Was hat Martinez am Abend des 2. Mai gesehen? Als der Mittelfeldmotor der AS Rom sich gegen den FC Liverpool zwar einen kapitalen Fehler zu Spielbeginn leistete, dann aber seine Mitspieler motivierte und schlussendlich sogar noch zwei Tore erzielte. Dass die Italiener an der Sensation geschnuppert haben, war auch sein Verdienst. Sind es nicht diese Gewinnertypen, die der belgische Nationaltrainer in der Vergangenheit gefordert hat?

Bei der letzten WM war es kaum zu übersehen: Den Roten Teufeln fehlte es unter Marc Wilmots an Charakter, wenn es nicht rund lief und sie mit einem Rückstand zu kämpfen hatten. „Taktische Gründe“ schiebt Martinez für die Nicht-Nominierung des 30-Jährigen vor. Dass dieser Grund nicht ausschlaggebend war, ist sogar für den Fußball-Laien ersichtlich. Vielmehr scheint der Trainer mit der Einstellung des „Ninjas“ zu hadern, auch wenn der Spanier es nicht zugeben will. Doch nehmen wir an, es sei der einzig wahre Grund gewesen: Warum nimmt er Nainggolan dann nicht als Ersatzmann mit? Eine Mannschaft lebt von ihrer Unberechenbarkeit. Dem Nationaltrainer würden mit dem Mittelfeldspieler weitere Optionen zur Verfügung stehen. Er könnte sein System fast nach Belieben umbauen. Denn: Belgien kann Bosnien-Herzegowina und Zypern seinen Stempel aufdrücken. Anders dürfte die Situation allerdings gegen Deutschland oder Brasilien aussehen. Dann ist Anpassungsvermögen gefragt. Doch darauf scheint der Coach verzichten zu wollen. Er beharrt auf sein System.

Dass Martinez sich mit dieser Entscheidung keine Freunde gemacht und im Gegenteil sogar eher viele verloren hat, weiß er. Das dürfte auch in der Chefetage des Fußballverbandes der Fall sein. Bei einem Scheitern im frühen Verlauf des Turniers könnte ihm die Nichtberücksichtung Nainggolans zum Verhängnis werden. Aber halt, erinnern wir uns: Der Vertrag des Spaniers wurde vor einigen Tagen verlängert. Egal, wie das Turnier für Belgien ausgeht – Martinez bleibt Cheftrainer. Bis auf einige unangenehme Fragen der Journalisten und Buh-Rufe im Publikum dürfte die Entscheidung für ihn keine Folgen haben. Aber wenigstens muss er sich in Zukunft nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen, ob er Nainggolan nominiert oder nicht. „Radja“ kündigte das Ende seiner internationalen Karriere und seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft an. Dass es so weit kommen musste, ist ein Desaster, ein unglaublicher fußballerischer Verlust. Für immer: #TeamRadja.

Mario Vondegracht: Popularität ist nicht gleich Erfolg

Gestern war jeder fußballbegeisterte Belgier für einen Tag lang Nationaltrainer. Was wurde nicht geschimpft über die Wahl von Roberto Martinez, Radja Nainggolan nicht für die WM in Russland in Betracht zu ziehen. Der Hass, der sich in den sozialen Netzwerken entfaltete, kannte keine Grenzen. Dabei ist die Entscheidung des spanischen Nationaltrainers grundsätzlich und auf dem ersten Blick hin in der Tat völlig unverständlich. Einer der besten Mittelfeldspieler der Welt ist nicht beim Turnier der besten Fußballer des Planeten dabei: Da kann doch etwas nicht stimmen. Und der erste Schuldige war auch gleich gefunden: Roberto Martinez.

Doch so einfach kann man es nicht machen. Radja Nainggolan ist ein schwieriger Charakter, und das ist schon nett ausgedrückt. Natürlich drückt er dem Spiel der AS Roma in der italienischen Seria A seinen dicken Stempel auf. Doch die Situation bei der von Stars gespickten Nationalmannschaft ist anders. Das weiß auch die neue „Hassfigur“ vieler Fans, Roberto Martinez. Der hat allerdings als akribischer Sammler von Informationen eine konsequente und mutige Entscheidung zugunsten des Kollektivs getroffen. Das mag auf den ersten Blick nicht jedem schmecken. Doch dafür ist Martinez nun mal Trainer. Wer seine Entscheidungen nur aufgrund von Popularitätswerten trifft, der schafft nicht den maximalen Erfolg. Bestes Beispiel ist die Entscheidung von Joachim Löw in Deutschland, wo Sandro Wagner nicht berücksichtigt wurde, der wie Nainggolan auch anschließend in einer Kurzschlussreaktion seinen Rücktritt verkündete. Oder nehmen wir Frankreich, wo auch Profis im Stile eines Anthony Martials oder Karim Benzemas die WM vom heimischen Sofa aus verfolgen müssen. Und auch bei Argentinien fehlt mit Mauro Icardi ein echter Weltklassespieler.

Oft wird in diesen Tagen moniert, dass es Teams an „echten Kerlen“ fehlt, die eine „Gewinnermentalität“ ausstrahlen. Man kann es aber auch charakterliche Defizite nennen. Der „Ninja“ ist unberechenbar, vor allem, wenn er nicht spielt. Und seine mangelnde Disziplin zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass seine Nichtberücksichtung bereits von seiner Seite aus am Sonntag durchgesickert ist. Ein Leck kann sich kein Nationaltrainer leisten. Unter Marc Wilmots hat man bei der EM 2016 gesehen, wo das enden kann. In diesen Tagen sollte man sich sowieso noch einmal zwei Jahre zurückversetzen und an das Wilmots-Zitat erinnern, als er zu den Rauchgewohnheiten Nainggolans sagte: „Wenn ich ihm das Rauchen verbiete, zertrümmert er das Hotelzimmer.“

Das Einzige, was man kritisieren kann, ist, dass Roberto Martinez nicht mit offenen Karten spielt. Nicht „taktische Gründe“ oder die „Balance“ im Team sind es, die Nainggolan außen vor lassen, sondern einzig und allein sein Verhalten. Hätte der Coach das gesagt, wären nicht alle, aber viele Tastaturen in den (a-)sozialen Netzwerken unbenutzt geblieben.