„Zuerst Eupen, dann ein bisschen weiter“



Als 1977 die Gemeindefusion Kettenis „erwischte“ und das Dorf verwaltungstechnisch mit Eupen verschmolz, war ein Großteil der Podiumsgesprächspartner von GE-Redakteur Jürgen Heck und Radio-Contact-Moderator André Frédéric entweder noch nicht geboren oder erst auf allen Vieren unterwegs. Für sie ist dieses „Trauma“ der jüngeren Dorfgeschichte somit keines – denn sie kennen die Situation schlichtweg nicht anders. Und selbst der pensionierte Landwirt Karl Miessen (74) will das Thema nicht zu hoch hängen. Auf die Frage, wie er damals die Gemeindezusammenlegung wahrgenommen habe, antwortet er ehrlich: „Da habe ich nicht viel gefühlt, da habe ich gearbeitet.“

Identität ist für ihn ohnehin nichts auf dem Papier, sondern etwas, das man sich erarbeitet. „Wir versuchen, über die Dorfgruppe und unsere Aktivitäten Identität zu schaffen. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt sich durch Gemeinsamkeiten“, zeigt er sich überzeugt.

Christine Haag gehört zu den jüngeren Semestern im Dorf. Beruflich hat es sie nach Deutschland verschlagen. Was sie antwortet, wenn sie gefragt wird, woher sie kommt? „Zuerst Eupen, weil das den Leuten geläufiger ist. Aber dann gehe ich schon ein bisschen weiter.“ Bis sie in ihren Umschreibungen auf Kettenis stößt. „Mein Zuhause, wo ich jeden Stein kenne“, schwärmt Stephan Mathieu. Und wo die Menschen weniger nörgeln als in Eupen, meint er. Christine Kirschvink-Ernst ist mit ihm da weitestgehend auf einer Wellenlänge. „Mir gefällt das etwas Kleinere, das Dörfliche an Kettenis.“

Aber ganz so beschaulich geht es auch in Kettenis nicht mehr zu. Das Dorf boomt, es wird nahezu an jeder Ecke gebaut. Mehr als 4.000 Einwohner zählt die Ortschaft mittlerweile. Viele junge Familien, zahlreiche Neulinge stoßen hinzu. Als Integrationspfeiler entpuppen sich da mehr denn je die Ketteniser Vereine. „Wir haben hierdurch immer wieder starken Nachwuchs“, weiß Christine Haag als langjährige KLJ-Leiterin. Zur Belastungsprobe entwickelt sich für die Jugendvereinigung vielmehr das Engagement „nebenbei“. Ob Kinderkarneval oder sonstige Veranstaltungen, das alles wiegt zunehmend schwer auf den Schultern der KLJ. „Denn wir haben ja nicht automatisch mehr Leiter als früher“, weiß Christine Haag.

Einen jugendlicheren Anstrich wünscht sich derweil die Dorfgruppe. Sie ist zwar bunt aufgestellt und kann auf ein festes Gerüst an Mitgliedern zurückgreifen, doch fehlt ein wenig der Nachwuchs. „Gerade weil wir das ganze Dorf im Blick haben wollen, wäre das nicht verkehrt“, gesteht Karl Miessen. Die Amateurfußballer von Racing Kettenis machen ihrem Namen alle Ehre, aber um den Sport alleine geht es im Traditionsverein nicht. „Wer nur zum Fußballspielen kommen will, der ist bei uns falsch“, betont Vereinspräsident Stephan Mathieu. Mindestens genauso wichtig sei der Austausch, die Geselligkeit – kurz die dritte Halbzeit. Und deshalb sei die Dorfkneipe im Tal auch von so großer Bedeutung. „Würde sie wegbrechen, fehlt uns echt etwas hier“, räumt er ein.

Das Café gibt es noch, den Saalbetrieb im Tal aber eigentlich nicht mehr (die LokalRunde ist da die Ausnahme). Leidtragender dieser Entwicklung ist nicht zuletzt die Ketteniser Theatergruppe, die nun gezwungenermaßen auf den Alten Schlachthof ausweichen muss. Dies sei keine Liebesheirat, wie Vereinspräsidentin Christine Kirschvink-Ernst beteuert – selbst wenn die Rahmenbedingungen am Rotenberg toll wären. Aber ist das Ganze nun mal nicht in Kettenis. „Mir fehlt da die Seele im Saal“, pflichtet ihr Stephan Mathieu, ebenfalls Ketteniser Theatermitglied, bei.

Ohnehin: Wenn das Dorf einen Schwachpunkt hat, dann ist es das überschaubare Angebot im Horeca-Sektor. „Keine Frage, das fehlt“, findet auch Karl Miessen. Wenngleich mit Kartoffelkiste und Mesopotamia noch zwei Imbissgeschäfte im Dorf die Fahne hochhalten. „Aber ein kleiner Betrieb mit Seele, die auch noch ländlich schlägt: Das wäre sicherlich was“, träumt er.

Auf dem Panneshof wurde vor x-Jahren mal ein solches Projekt von einem Ketteniser Privatmann angedacht, vonseiten der Stadtverantwortlichen aber abgewunken, weil man den Konzessionär der Mehrzweckhalle nicht in den Rücken fallen wollte. Und wie sähe die Lage heute aus? „Jedes gute und zukunftsorientierte Projekt hat eine Chance. Für gute Ideen sind wir immer offen“, betont Schöffin Claudia Niessen.

An den passenden Ideen mangelt es derweil in Kettenis, um den stetig wachsenden Verkehrsfluss in die richtigen Bahnen zu lenken. Buschberg, Oberste Heide und Weimser- straße als Abkürzungen und Rennstrecken – das kennt jeder im Dorf. „Oft sind es die Eltern der Kinder, die auf dem Schulweg zu schnell unterwegs sind. Da gibt es Exemplare, die sind wirklich eine Katastrophe“, berichtet Stephan Mathieu von seinen Erfahrungen. Mitunter sei dies eine „Frage der Gemütlichkeit“, glaubt Christine Haag, denn: „Viele Eltern stehen mittlerweile eine halbe Stunde später auf und stressen dann auf dem Weg zur Schule.“

Schulpflichtige Kinder hat Karl Miessen zwar keine mehr, doch das „Heizerproblem“ ist ihm nicht unbekannt. „Aber erste Schritte wurden ja schon unternommen“, spielt er auf die Sicherheitsstreifen in der Talstraße an. Und es ist ein weiterer Beweis dafür, dass die Ketteniser versuchen, ihre Probleme gemeinsam anzugehen. Denn die Idee hierzu wurde einst bei einem offenen Austausch geboren.

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