Ohne Schule, ohne Noten, ohne Lehrer

Hausunterricht bzw. Freilernen ist in der DG erlaubt, in Deutschland nicht. | dpa

Bis vor zwei Jahren besuchten die 13-jährige Amanda Gremlich und ihr 14-jähriger Bruder Bastian noch die Schule. Dann teilte Amanda ihrer Mutter mit, dass sie dazu keine Lust mehr habe. «Ich wollte nicht, dass mir ein Lehrer immer sagt, was ich tun muss», erzählt die junge Schweizerin. Auch ihr Bruder fühlte sich nach der Schule oft niedergeschlagen. Die Mutter und gelernte Sozialpädagogin hatte Verständnis. So wurden die Gremlichs aus dem Schweizer Kanton Bern zur Freilerner-Familie: Die Teenager lernen, wenn ihnen gerade danach ist, und beschäftigen sich mit dem, was sie interessiert. Amanda hilft dem Tierarzt, Bastian zeichnet geometrisch, sie spielen Theater und kochen amerikanisch.

In vielen Schweizer Kantonen ist Hausunterricht erlaubt. Ähnlich wie in der Deutschsprachigen Gemeinschaft besteht hier zwar Bildungs-, aber nicht Schulpflicht. Teils müssen Eltern eine Bewilligung einholen und die Kinder müssen jährliche Lernkontrollen bestehen. Teils werden sie nur ab und zu von Schulinspektoren besucht. Wie die Gremlichs, die in einem alten Bauernhaus leben, praktizieren auch einige Familien in besonders liberalen Kantonen das Unschooling – die freieste Form von Hausunterricht.

Freilerner-Eltern geben ihren Kindern keinen Stundenplan oder konkrete Aufgaben. Stattdessen beantworten sie deren Fragen, geben Tipps oder besorgen bei Interesse Lernmaterialien. «Ich habe mit meinen Kindern den offiziellen Lehrplan besprochen, aber ich zwinge sie nie, etwas zu lernen, was sie nicht wollen», sagt Andrea Gremlich. «Kinder wissen, was gut für sie ist. Amanda will später mit Tieren arbeiten, daher ist für sie Grammatik weniger wichtig.» Auch beim Spielen würden Kinder lernen. «Wenn sie etwas nicht interessiert, dann vergessen sie es ohnehin gleich wieder.»

Amanda liest zurzeit viel über Thailand, weil sie bald dorthin in den Urlaub fahren wird: «Dabei lerne ich nebenbei auch Mathe – ich habe ein Klimadiagramm von Thailand erstellt.» Unschooler argumentieren, dass jedes Kind lernen will und dass die Schule diesen natürlichen Vorgang behindern würde. Amandas Bruder hat in den letzten Monaten sein Englisch und Französisch aufgebessert. Dem Großvater in den USA half er, ein Haus zu bauen, und einige Zeit lebte er bei einer Heimunterrichtsfamilie in der französischsprachigen Schweiz: «Jetzt spreche ich Englisch und Französisch viel besser, als wenn ich in der Schule Vokabeln gebüffelt hätte», sagt Bastian.

Die Gründe, warum sich Familien entschließen, ihre Kinder nicht zur Schule zu schicken, sind vielfältig: Sie misstrauen dem staatlichen Schulsystem, haben links-alternative oder konservativ-christliche Erziehungsziele, möchten ihre Kinder vor Mobbing und Gewalt schützen oder deren Bildung – wie bei der Familie Gremlich – einfach individueller gestalten. Besonders viele Hausunterrichtsfamilien – schätzungsweise rund zwei Millionen – gibt es in den USA. Dort hatte die moderne Heimunterrichtsbewegung in den 1960ern ihren Ursprung.

«Zurück zur Schule möchte ich auf keinen Fall», sagt Amanda. «Ich lerne jetzt viel besser und meine einstigen Klassenkameraden sehe ich ja immer noch oft.» Bastian hingegen bereitet sich zurzeit selbstständig auf die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium vor. Bei Fragen wendet er sich nicht nur an seine Eltern, sondern auch an Bekannte. Er ist sich sicher: «Mir wird es im Gymnasium nicht gefallen, aber ich brauche das Abitur, um später Physik oder Astronomie zu studieren.» Die zwei kleinen Brüder von Amanda und Bastian sollen nach den Vorstellungen der Eltern nie zur Schule gehen müssen. (dpa/boc)