Kinderzimmer statt Klassenraum – Schule only online

In der einzigen reinen Internetschule dieser Art in Deutschland gibt es keine Klassen, keinen Schulgong, keinen Pausenhof. Alles läuft online ab. Kinderzimmer statt Klassenzimmer.

Viele die hier lernen, haben schon einiges durchgemacht - Mobbing, Gewalt, seelische Verletzungen. Psychische oder körperliche Erkrankungen machen ihnen einen regulären Schulbesuch unmöglich. Jungen und Mädchen mit chronischer Schulangst sind dabei. Schulverweigerer, die ganz ohne Unterricht zu Hause hockten, wie die Leiterin der Web-Individualschule, Sarah Lichtenberger, berichtet. „Viele haben eine traumatische, katastrophale Schullaufbahn hinter sich. Wir müssen sie erst behutsam aufrichten, ihr Selbstbewusstsein aufpeppen.“

Tom ist pünktlich online. Geschichte steht an. „Die Bauernaufstände sind heute dran, habe schon alles bearbeitet.“ Mit dreieinhalb konnte er lesen, auch die Dokumente der Erzieherinnen in der Kita. „Seit ich fünf bin, lese ich Zeitung. Eigentlich sollte ich mit fünf schon in die zweite Klasse kommen, aber die Schulleitung war dagegen“, erzählt der 13-Jährige, der das Asperger-Syndrom hat, eine Variante des Autismus. „Ich habe mich immer wahnsinnig gelangweilt. Ich wurde ausgegrenzt, gemobbt, einmal stundenlang an eine Laterne gefesselt - und Schlimmeres.“

Zwei Monate lang war Tom in einer psychiatrischen Einrichtung. Seit einem Jahr besucht er die Web-Schule, wirkt munter, hat einen erfrischenden Humor, wagte sich jüngst auf eine Comedy-Bühne, verfasst eine Satire-Zeitschrift. „Ich war vorher auf vier Schulen und hatte teilweise gar keinen Unterricht. Hier geht’s mir sehr gut. Jedes Fach ist an meinen Kenntnissen ausgerichtet.“

Gerade eben war’s noch die Inquisition - und schon sind Tom und sein Lehrer zu Mathe-Variablen gesprungen. Ein Zimmer weiter chattet Kollegin Blume mit Elias. „Franzi, was machen wir heute?“, fragt der Junge, der am liebsten über Planeten spricht - was dann auch erst mal erlaubt ist. „Ich kann mich nicht so gut in großen Klassen einordnen, ich bin immer so hibbelig und werde dann angemotzt“, berichtet Elias - verschwindet kurz von der Bildfläche und kommt mit seinem Hund zurück. Wegen einer auditiven Wahrnehmungsstörung kam der Junge im normalen Unterrichtsbetrieb nicht klar, er habe eine „furchtbare Schulodyssee“ hinter sich, sagt Blume. Er tue sich noch sehr schwer, lerne aber immerhin täglich. Elias‘ Mutter Beate kritisiert: „Viele Kinder können mit dem heutigen Schulsystem und den großen Klassen nichts anfangen. Es wird erwartet, dass sie den ganzen Tag still sitzen, obwohl das Gehirn Bewegung braucht.“ Die Politik müsse mehr in Bildung und Lehrer investieren. „Die Begabungen und Ressourcen der Kinder gehen unter.“ Die Web-Individualschule steht nur Kindern offen, die dauerhaft krankgeschrieben oder aus unterschiedlichsten anderen Gründen per Gutachten von der Schulpflicht befreit sind. So gibt es prominente Jungstars mit angespannten Terminplänen unter den Absolventen, 2008 waren es Bill und Tom Kaulitz von der Band Tokio Hotel. Aktuell gehören zudem junge Sportler oder Schauspieler zu den Schülern, die nach Wettkampf oder Dreh ihren Unterricht bekommen. Fixe Schulferien sind nicht vorgesehen, nur über Weihnachten.

Jede Lehrkraft - 17 Sozialarbeiter, Pädagogen, Psychologen - unterrichtet nacheinander mehrere Schüler, maximal 15 Jungen und Mädchen. Täglich werden die Themen besprochen, Lernmaterial heruntergeladen, die Schüler schicken ihre bearbeiteten Aufgaben per Mail. Jeder Lehrer unterrichtet alle Fächer, außer Chemie, Physik, Religion. Sport geht nicht. Jeder einzelne Schüler hat sein eigenes Programm. Zuerst aber heißt es: Motivation wecken, Vertrauen aufbauen, sich kennenlernen, Geduld beweisen.

Die Warteliste ist lang. Vor allem seit der verpflichtenden Inklusion an den Regelschulen, die in der Praxis allzu oft nicht funktioniere, schildert Lichtenberger. Die Webschule koste im Monat 830 Euro, in 80 Prozent der Fälle bezahlt von Jugendämtern. Homeschooling „per se“ sei nicht der richtige Weg, findet Lichtenberger. „Die Kinder sollten schon in Regelschulen gehen. Aber wenn sie dort nicht ihren Platz finden, Außenseiter bleiben, Furchtbares erleben, sollten Gesundheit und seelisches Wohl über der allgemeinen Schulpflicht stehen.“ (dpa)