Ist die Krise der türkischen Wirtschaft abgesagt?

Passanten gehen in Istanbul in der Türkei über die Galata Brücke. | Michael Kappeler/dpa

Die Istiklal Caddesi im Herzen Istanbuls ist nicht nur die bekannteste Einkaufsmeile der Türkei, sie ist auch ein Spiegel der wirtschaftlichen Entwicklung des Schwellenlandes. Zahlreiche Läden dort haben dichtgemacht. Kunden blieben aus: Türkische, weil sie angesichts der instabilen Lage ihr Geld zusammenhielten. Ausländische, weil kaum noch westliche Touristen kamen. Warnungen vor einer Wirtschaftskrise wurden laut. Neuerdings kommen aus der Türkei allerdings überraschend positive Nachrichten, zumindest gilt das für den Bereich der Wirtschaft. Ist die Talsohle durchschritten?

Politisch steuert die Türkei seit mindestens zwei Jahren durch stürmische Zeiten, die auch die Wirtschaft in schweres Fahrwasser gebracht haben. Die drei großen Ratingagenturen stuften die Türkei auf Ramschniveau herunter. Im Quartal nach dem Putschversuch vom Juli 2016 schrumpfte die Wirtschaft erstmals seit dem Krisenjahr 2009. Bei Präsident Recep Tayyip Erdogan dürften die Alarmglocken geschrillt haben. Die Unterstützung, die er weiterhin in großen Teilen der Bevölkerung genießt, basiert auch auf den wirtschaftlichen Erfolgen, die die Türkei unter seiner Ägide erzielt hat.

Um die Konjunktur wieder anzukurbeln, hat die Regierung ihre Ausgaben ausgeweitet und großzügig Steuervergünstigungen gewährt. Das Volumen des Kreditgarantiefonds wurde von 20 Milliarden auf 250 Milliarden Lira (64 Milliarden Euro) aufgestockt, womit Bankkredite an kleine und mittelständische Unternehmen abgesichert wurden.

Subventionen für Ferienflieger, die Urlauber-Airports in der Türkei ansteuern, wurden ausgebaut: Jeden dieser Charterflüge bezuschusst die Regierung noch bis Jahresende mit mindestens 6.000 Dollar. Erstmals seit dem Herbst 2015 stieg die Zahl der ausländischen Besucher im April wieder, wenn auch von einem niedrigen Niveau aus.

Spielraum dafür hat die Regierung: Das Haushaltsdefizit lag 2016 bei nur 1,1 Prozent. Ausgerechnet der EU-Beitrittskandidat, der sich seit Jahrzehnten erfolglos um die Aufnahme bemüht, erfüllte damit die Maastricht-Kriterien – anders als beispielsweise Frankreich oder Spanien. Und die Konjunkturmaßnahmen zeigen erste Erfolge: Die Regierung vermeldete für das erste Quartal 2017 ein Wachstum von fünf Prozent. Die Weltbank korrigierte ihre Wachstumsprognose für dieses Jahr kürzlich um einen halben Punkt auf 3,5 Prozent nach oben.

Um die Arbeitslosigkeit von 11,7 Prozent in den Griff zu bekommen, reicht das allerdings nicht. Besonders alarmierend ist die Jugendarbeitslosigkeit, die inzwischen auf 23 Prozent angestiegen ist. Zusätzlich zur derzeitigen Erwerbsbevölkerung von gut 31 Millionen drängen jedes Jahr mehr als eine halbe Million junge Türken neu auf den Arbeitsmarkt. „Wir benötigen Auslandsinvestitionen, die Arbeitsplätze schaffen“, sagt der geschäftsführende Vorstand der deutsch-türkischen Handelskammer in Istanbul, Jan Nöther.

Im vergangenen Jahr gingen internationale Direktinvestitionen allerdings um 31 Prozent auf 12,1 Milliarden Dollar (10,8 Mrd Euro) zurück, und in den ersten zwei Monaten des Jahres beschleunigte sich dieser Rückgang sogar noch. „Die Investitionen werden auch im ersten Halbjahr 2017 rückläufig sein“, sagt Nöther. Große Unternehmen, die schon in der Türkei vertreten seien, investierten zwar weiterhin. „Die Neuinvestitionen sind aber zurückhaltend. Besonders kleine und mittlere Unternehmen warten die Entwicklung ab.“

Trotz des schwierigen politischen Umfelds betonen Wirtschaftsexperten die Standortvorteile der Türkei: Gut ausgebildete Fachkräfte, verhältnismäßig niedrige Löhne, hohe Produktivität. Branchen wie der Automobilsektor boomen besonders wegen der Exporte von Lastwagen und Bussen, wovon zum Beispiel deutsche Firmen wie Mercedes-Benz Türk profitieren. Und nicht zuletzt ist die Türkei ein Markt mit 80 Millionen potenziellen Konsumenten, der weiter wächst.

Die Regierung weiß, dass sie für nachhaltiges Wachstum auf internationale Investoren angewiesen ist, die sie entsprechend umwirbt. Hilfreich für das Image im Ausland sind massenhafte Entlassungen und Festnahmen allerdings nicht. Das gilt auch für die Enteignungen von angeblichen Anhängern der Gülen-Bewegung, die Erdogan für den Putschversuch verantwortlich macht. Zwar ist seit Erdogans Sieg beim Verfassungsreferendum etwas Ruhe in der Türkei eingekehrt. Ob diese Ruhe aber tatsächlich Stabilität bedeutet oder sich als trügerisch erweisen wird, ist ungewiss. Auch viele wohlhabende Türken scheinen sich lieber absichern zu wollen. Der Wirtschaftsexperte sagt: „Jeder, der es sich leisten kann, hat sich einen europäischen Pass besorgt.“ (dpa)