Fragile Koalition mit offener Halbwertzeit

Es liegt in den Händen der SPD-Mitglieder, ob eine neue Große Koalition unter Führung von Kanzlerin Angela Merkel (l.) zustande kommt. SPD-Chef Martin Schulz (r.) will Außenminister werden. | afp

Ein weiterer mehr als 24-stündiger Verhandlungsmarathon liegt hinter ihnen. SPD-Vize Olaf Scholz, der neuer Finanzminister und Vizekanzler werden soll, sagt: „Ich schlafe mal jetzt.“ Am Ende haben sie tatsächlich verhandelt bis es quietscht – so, wie es SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles angekündigt hat. Zwei Verlängerungstage haben sich die Unterhändler gegönnt. Ganz zum Schluss, am Mittwoch im Morgengrauen, kommen die Verhandlungen dann noch mal fast zum Erliegen. Stundenlang bewegt sich beinahe nichts mehr. Selbst ein Scheitern wollen Eingeweihte nicht ausschließen. Der Grund: Nachdem in der Union früh davon die Rede war, dass man der SPD wegen des schon seit Wochen schwer wackelnden Parteichefs Schulz notfalls sogar drei wichtige Ministerien zugestehen würde – Finanzen, Außen und Arbeit/Soziales – legt jetzt die CSU erstmal ihr Veto ein.

Erst nach längerem Hin und Her auf Ebene der Parteichefs gibt es am Mittwochvormittag aus dem Adenauerhaus Entspannungssignale.

CSU-Chef Horst Seehofer habe das Arbeits- und Sozialressort für seine Partei reklamiert, heißt es zwischendurch. So einfach werde die Union nicht die wichtigsten Ministerien preisgeben, soll das wohl heißen. Erst nach längerem Hin und Her auf Ebene der Parteichefs gibt es am Mittwochvormittag aus dem Adenauerhaus Entspannungssignale. So habe Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) erleichtert mit SPD-Leuten geplaudert, heißt es, sogar von Umarmungen ist die Rede. Etwas später ist dann klar: Die Verteilung der Ministerien in einem möglichen vierten Kabinett Merkel birgt ein paar faustdicke Überraschungen. Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) soll neuer Finanzminister werden – offensichtlich auch auf ausdrücklichen Wunsch der Unionsspitze, die für diesen Posten auf einen Fachmann bestanden haben soll. Und das Amt des Vizekanzlers soll Scholz obendrein übernehmen.

Dass sich die SPD am Ende trotz ihres miserablen Wahlergebnisses tatsächlich mit der Forderung nach drei „starken“ Ministerien – Finanzen, Außen und Arbeit/Soziales – durchsetzen kann, dürfte hauptsächlich der Not von Merkel und Seehofer geschuldet sein. Beide wollen unbedingt vermeiden, dass eine neue Große Koalition am Ende doch noch am SPD-Mitgliederentscheid scheitert.

Auch deswegen müssen sie Schulz stützen. Gut möglich, dass die SPD-Spitze wichtige Punkte bei ihrer Basis machen kann, wenn sie darauf hinweist, dass sie wichtige Ressorts erobert hat.

Fast zur tragischen Figur wird an diesem Tag Martin Schulz. Er hat binnen eines Jahres gleich zwei Eintrittswellen in die Partei ausgelöst – erst mit seinem Antritt als Parteichef und Kanzlerkandidat, dann aus Protest gegen sich und seinen Koalitionsplan.

Am frühen Nachmittag wird mit einem Paukenschlag klar, mit welcher Personalrochade es Schulz gelingen soll, seine politische Zukunft zu retten: Er will als Außenminister in Merkels Kabinett gehen – auch wenn er kurz nach der Bundestagswahl einen solchen Schritt strikt ausgeschlossen hatte. Quasi als Preis dafür gibt er den Parteivorsitz schon nach einem Jahr an Fraktionschefin Andrea Nahles ab. Auch das prestigeträchtige Amt des Vizekanzlers ist damit für Schulz passé – nach Angaben aus Parteikreisen soll Scholz es übernehmen.

Auch in der CSU gibt es nach Monaten des Rätselratens endlich Klarheit in einer Top-Personalie. Parteichef Seehofer wechselt zum Abschluss seiner Karriere noch einmal nach Berlin. Das gehöre nicht zu seiner Lebensplanung, hatte er zwar immer wieder gesagt. Doch schon in den geplatzten Jamaika-Verhandlungen mit FDP und Grünen soll Merkel ihm ein wichtiges Ministerium angeboten haben. Viele CSU-Politiker drängten ihn ohnehin. Und da Alexander Dobrindt lieber Landesgruppenchef bleiben wollte, blieb für ein Superministerium wie das jetzt gezimmerte Ressort Innen, Bau und Heimat quasi nur Seehofer.

Schon in der Hochphase der Flüchtlingskrise hatte die CSU ja vor allem auf das Innenministerium geschielt – mit Bayerns Ressortchef Joachim Herrmann als Kandidaten. Nun bekommt Seehofer ein deutlich aufgewertetes Innenressort – aus CSU-Sicht sicherlich eine Möglichkeit, um schon in den kommenden Monaten inhaltliche Akzente zu setzen. Genauso wie im Verkehrsministerium, das auch den Bereich Digitales umfasst. Auch das Gewicht der CSU-Ministerien ist größer als bisher – auch wenn die CSU das Agrarministerium nun preisgegeben hat.

Das ist aus CSU-Sicht das Entscheidende: dass die Chef-Unterhändler mit Erfolgen aus Berlin nach München zurückkehren. Im Herbst ist schließlich die bayerische Landtagswahl, da muss die CSU den Verlust der absoluten Mehrheit fürchten. Die Trophäen – die Ministerposten und inhaltliche Punkte etwa in der Flüchtlingspolitik oder Steuersenkungen – wird die CSU im Wahlkampf sicher groß vermarkten. Personell ist die CSU nun breit aufgestellt: Markus Söder als künftiger Ministerpräsident – der Wechsel soll spätestens Ende März sein – und Seehofer in Berlin, quasi auch als „lebende Obergrenze“ beim Flüchtlingsthema.

Dass Merkel bei all den Wünschen den Verlust von zwei wichtigen Ministerien verschmerzen muss, geht nicht unter.

Dass Merkel bei all den Wünschen der Koalitionspartner den Verlust von zwei wichtigen Ministerien verschmerzen muss, geht trotz der vielen anderen Personalien nicht unter. Die CDU gibt das Finanzministerium und das Innenministerium ab. Vor allem der Verzicht auf das Finanzressort dürfte schmerzen, zumal es mit den CDU-Amtsinhabern Wolfgang Schäuble und Peter Altmaier quasi die ressortgewordene Garantie für die „Schwarze Null“ war.

Zur Ehrenrettung kann Merkel darauf verweisen, dass die CDU sich als Partei des „Vaters der sozialen Marktwirtschaft“, Ludwig Erhards, erstmals seit mehr als 50 Jahren wieder das Wirtschaftsministerium gesichert hat. „Erster Bundeswirtschaftsminister aus der CDU seit 1966. Immerhin“, twittert etwas süffisant NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst. Der Bundestagsabgeordnete Olav Gutting (CDU) formuliert seine Kritik am Verhandlungsgeschick der Kanzlerin auf Twitter noch schärfer: „Puuuh! Wir haben wenigstens noch das Kanzleramt!“ (dpa)