Die offene Wunde in Europa

Angehörige erinnern mit Fotos, Blumen, Windlichtern und provisorischen Gedenktafeln an die Opfer unter den Demonstranten vom 20. Februar 2014. | Andreas Stein/dpa

Starr blicken die toten Helden in Kiew auf die vorbeischlendernden Passanten. Mit Klebeband befestigt hängen Fotos der Demonstranten an Bäumen, die vor genau fünf Jahren mit Schutzschildern, Helmen und Knüppeln ausgerüstet mit Polizisten kämpften. Der Protest am Unabhängigkeitsplatz (Maidan) jährt sich zum fünften Mal. Damals starben rund 100 Menschen auf beiden Seiten. Der Machtwechsel in der Ukraine hat jedoch auch Europa stark verändert. Die Ex-Sowjetrepublik ist heute zerrissen: Krieg, Verwüstung und Vertreibung prägen für viele Menschen in der Ostukraine den Alltag. Am Rande Europas schwelt ein Konflikt, bei dem noch immer beinahe täglich Menschen verletzt oder getötet werden.

Dabei sollte es eigentlich im November 2013 ein friedlicher Protest gegen die prorussische Politik von Präsident Viktor Janukowitsch werden. Der Journalist Mustafa Najem ruft im Internet auf, sich am Maidan zu versammeln. Provoziert von einem harten Polizeieinsatz kommen innerhalb weniger Tage Zehntausende zusammen, um den Abschluss des unterschriftsreifen Abkommens mit der EU zu fordern. Dann eskaliert der Protest, Ende Februar 2014 flüchtet Janukowitsch.

Der Machtwechsel, von dem sich die Demonstranten auch ein Ende der korrumpierten Elite erwarteten, hat einen hohen Preis: Russland annektiert die Halbinsel Krim, im Osten sterben seither Tausende Menschen in den Kämpfen der prorussischen Separatisten mit den Regierungssoldaten. Kiew verliert die Kontrolle über sieben Prozent seines Territoriums. Mehr als zwei Millionen Ukrainer, die auf der Krim bleiben, bekommen einen russischen Pass. Hunderttausende fliehen vor dem Krieg im Donbass zumeist ins Regierungsgebiet, viele auch nach Russland.

Die Front geht teilweise mitten durch Dörfer hindurch. Ein unter anderem mit deutscher Hilfe ausgehandelter Friedensplan liegt auf Eis. Er wird von den Konfliktparteien nicht umgesetzt. In der Ukraine-Krise geht es aber längst nicht mehr nur um das Land. Sie hat sich ausgewachsen zum schwersten Zerwürfnis zwischen Russland und den USA seit dem Kalten Krieg und ein Ende der europäischen Friedensordnung gebracht.

Eine Sanktionsspirale zwischen Moskau, der EU und den USA schwächt die russische Wirtschaft massiv, Russland wurde aus den G8-Treffen der führenden Industrienationen ausgeschlossen. Der Oligarch Petro Poroschenko galt als Hoffnungsträger, als er 2014 Präsident wurde. In Kiew fühlen sich viele Demonstranten aber betrogen. „Anstelle der einen Banditenregierung kam eine andere, noch gierigere, korruptere“, sagt der Kiewer Journalist Dmitri Gordon, der auch auf dem Maidan protestierte.

Wirtschaftlich ist die Ukraine wesentlich von westlichem Geld abhängig, Reformen tragen bislang keine Früchte. Zwar steigt die Wirtschaftsleistung nach dem heftigen Absturz wieder, dennoch ist die Ukraine mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von rund 2.350 Euro das ärmste Land Europas. Auch die Bekämpfung der Korruption läuft schleppend. Zwar wurden zahlreiche neue Behörden aufgebaut, die für Transparenz und ein Ende der Vetternwirtschaft sorgen sollten. Doch das seien lediglich Fassaden, sagt Experte Gordon. „Wenn ich gewusst hätte, dass mehr als 10.000 Menschen sterben und viele als Krüppel heimkehren, (…) dass die Regierung prinzipiell genau die gleiche bleibt, (…) dann wäre ich nicht auf den Maidan gegangen.“

Mehreren Umfrage zufolge halten mehr als drei Viertel aller Ukrainer die Entwicklungen ihres Landes für falsch – ein Rekordwert. Vor fünf Jahren war es knapp 50 Prozent. Bei der kommenden Wahl im Frühjahr könnte Poroschenko genau deshalb seiner Konkurrentin unterliegen. In Umfragen liegt er weit abgeschlagen hinter Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Bei seinem Amtsantritt versprach er, den Antiterror-Operation genannten Krieg in der Ostukraine innerhalb von Stunden zu beenden. Heute entschuldigte sich der Präsident dafür: „Es tut mir leid, ein Versprechen gegeben zu haben, dass sich nicht erfüllte.“ Der Streit zwischen den Nachbarländern Ukraine und Russland wird aber auch von Kiew befeuert: Flugverbindungen wurden bereits gekappt, auch der Zugverkehr soll eingestellt werden. Mit mehreren nationalistischen Gesetzen will die Ukraine den russischen Einfluss massiv zurückdrängen. Sprachkontrollen sollen die Nutzung des Ukrainischen sicherstellen, das Russische weitgehend verbannen. Nationalismus beherrscht immer mehr die Kiewer Politik. Und Poroschenko versucht darüber, seine Wiederwahl zu sichern. Am Maidan geht auch die Ärztin Olga Bogomolez immer wieder vorbei. Im Winter vor fünf Jahren kämpfte die Frau um das Leben verletzter Demonstranten. Heute ist sie Parlamentsabgeordnete. Sie zweifelt schon lange daran, dass die Revolution der richtige Weg für ihr Land war. Sie sagt: „Indem wir die Macht nach der Revolution an die Politiker gaben, haben wir ihnen erlaubt, ein neues Monster zu erschaffen.“ (dpa)