Die guten Menschen von Gander

Der Innenbereich des Flughafens von Gander: Nach den Anschlägen vom 11. September wird der US-Luftraum gesperrt. 6.500 Passagiere stranden im kanadischen Gander – und werden liebevoll umsorgt. | Christina Horsten/dpa


Anderswo ist Sommer, aber in Gander schneit es. Dicke Flocken fallen durch Nebelschwaden, von der Kleinstadt mit rund 12.000 Einwohnern auf der kanadischen Insel Neufundland ist kaum etwas zu sehen. „Ach ja, das ist ganz normal hier“, sagt die junge Frau an der Rezeption des Quality-Hotels, einem von sieben Hotels in der Stadt. „Aber es gibt auch manchmal schöne Sommertage. Und es ist herrlich ruhig. Ich bin hier geboren und ich mag es.“ Neuerdings kämen allerdings immer mehr Touristen, besonders aus New York, sagt die Rezeptionistin dann. „Aber wohl kaum wegen des Wetters.“

„Come From Away“ handelt von den Terroranschlägen und deren Auswirkungen auf die kanadische Kleinstadt.

Ein Musical, das derzeit am New Yorker Broadway Erfolge feiert, zieht die Menschen nach Gander: „Come From Away“ handelt von den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und deren Auswirkungen auf die etwa 1.800 Kilometer entfernte kanadische Kleinstadt. Nachdem am Dienstag vor 17 Jahren entführte Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington stürzten und rund 3.000 Menschen ihr Leben verloren, wurde der komplette Luftraum über den USA zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg komplett gesperrt.

38 Transatlantikflieger mit fast 7.000 Menschen an Bord wurden nach Gander umdirigiert – einer Stadt, die damals zwar nur knapp ein Drittel mehr Einwohner hatte, aber schon seit den 1930er Jahren einen groß ausgebauten Flughafen. Weil Transatlantikflüge bis in die 50er Jahre hinein nicht genug Treibstoff mitnehmen und deswegen zwischenlanden mussten, kamen Stars wie die Beatles, Frank Sinatra und Marilyn Monroe über die Jahre in Gander vorbei. Kubas früherer Präsident Fidel Castro soll den Zwischenstopp für eine kurze Schneeballschlacht und Schlittenfahrt mit ein paar Menschen aus Gander, auch „Ganderites“ genannt, genutzt haben.

Mit dem Wegfall der Zwischenlandungen fiel der Flughafen von Gander in die Bedeutungslosigkeit zurück, heutzutage starten nur noch eine Handvoll innerkanadischer Verbindungen und Urlaubsflieger. Die Abflughalle sieht immer noch genauso aus wie in den 50er Jahren. Trotzdem nennt er sich weiterhin „Internationaler Flughafen“ und Gander begrüßt seine Besucher als „Kreuzung der Welt“.

Am 11. September aber wurde Gander noch einmal zur Kreuzung der Welt. Fast 7.000 verunsicherte und ängstliche Menschen aus dutzenden Ländern mussten innerhalb kürzester Zeit mit Essen, Trinken und Schlafplätzen und allem anderen Allernötigsten versorgt werden. Babywindeln? Koscheres Essen? Wechselkleidung? Telefone, um die Angehörigen zu informieren, in einer Zeit vor allgegenwärtigen Smartphones? Fernseher, um die Nachrichten zu verfolgen? All das organisierten die Ganderites innerhalb kürzester Zeit für die „plane people“ (Flugzeugmenschen) – und das auf liebevolle Art und Weise fast eine ganze Woche lang.

„In wenigen Tagen haben wir neue Freunde gewonnen“, schrieb die damalige Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth, eine der gestrandeten „plane people“, danach an ihren Kollegen in Gander, Claude Elliott. „Die Anstrengungen, die die vielen Helfer unternommen haben, waren herzerwärmend und haben uns dabei geholfen, mit der schwierigen Situation umzugehen.“ Ihr Brief ist heute im Luftfahrtmuseum in Gander ausgestellt, gemeinsam mit dutzenden anderen Dankesbriefen und Andenken.

„NYC liebt Gander“ steht auf T-Shirts im Souvenir-Laden. Das Museum bietet auch geführte Touren an für Besucher, die fasziniert sind davon wie ein furchtbarer Terroranschlag die schlimmste Seite des Menschen zeigen und gleichzeitig an dieser Stelle die beste Seite des Menschen hervorbringen konnte. Die Besucher wollen die guten Menschen von Gander kennenlernen.

„Wir wollten nie berühmt werden“, sagt Tonya, die in Rosie’s Restaurant & Bakery nicht weit vom Museum entfernt arbeitet. „Diese Art von Gastfreundschaft ist für uns hier in Neufundland und in Gander ganz normal.“ 2001 arbeitete Tonya noch im örtlichen Golfclub. „Den haben wir dann für alle geöffnet, sodass jeder umsonst Golf spielen konnte – die Menschen mussten sich ja irgendwie beschäftigen und ablenken.“ Heute betreibt Tonya neben ihrer Arbeit als Kellnerin eine kleine Pension. „Beim Frühstück fragen mich meine Besucher immer aus und wenn ich ihnen dann alles erzähle weinen sie und umarmen mich.“

Das Musical am New Yorker Broadway hat Tonya natürlich schon gesehen, komplett in kanadischen Nationalfarben eingekleidet. „Da haben mich auch alle ausgefragt und umarmt.“ Die echten Menschen hinter den Broadway-Charakteren kennt sie selbstverständlich, in Gander kennt schließlich fast jeder jeden. Beulah zum Beispiel, die sich damals mit Hannah aus New York anfreundete, deren Sohn als Feuerwehrmann bei den Anschlägen ums Leben kam. Beulah trauerte mit Hannah – und Jahre später trauerte Hannah mit Beulah, als deren Sohn an Krebs starb. „Die beiden sind immer noch gut befreundet und treffen sich regelmäßig.“

Der Erfolg des Musicals soll nun auch die als angespannt geltenden Beziehungen zwischen den USA und Kanada wieder glätten, zumindest wenn es nach Kanadas Premierminister Justin Trudeau geht. Im Frühjahr 2017 besuchte er die Broadway-Show – gemeinsam mit der UN-Botschafterin der USA, Nikki Haley, und der Tochter von US-Präsident Donald Trump, Ivanka Trump. Auch Vater Trump hat Trudeau Berichten zufolge immer wieder eingeladen, das Musical soll ihn an die historische Solidarität zwischen beiden Ländern erinnern. Trumps Antwort bislang: „Auf keinen Fall.“ (dpa)