Aufstehen nach der Tragödie

Piergiovanni Di Carlo sitzt vor der Pizzeria in Loreto Aprutino. Mit seinem Bruder Riccardo machte er kürzlich das Lokal seiner Eltern wieder auf, nachdem diese starben, als eine Lawine am 18. Januar 2017 ein Hotel in den Abruzzen fortgerissen hatte. | Lena Klimkeit/dpa

Er steht in dem kleinen Lokal der Familie in Loreto Aprutino in Mittelitalien, weniger als eine Autostunde entfernt von dem Ort, an dem sich für Piergiovanni und seinen Bruder Riccardo alles veränderte. Die Eltern hatten sich mit dem kleinsten Sohn Edoardo im Vier-Sterne-Hotel Rigopiano einquartiert, als Schneemassen das Gebäude fortrissen. Der heute Zehnjährige überlebte das Unglück vom 18. Januar 2017. Für Sebastiano und Nadia Di Carlo sowie 27 andere wurde das Hotel zur Todesfalle. An jenem Mittwoch im Januar überschlugen sich in Italien die Ereignisse. Erst erschütterten vier schwere Erdstöße die Region und trafen sie mitten im Schneechaos. Dann ging die Lawine ab und verschüttete das Gebäude in Farindola am Fuß des Bergmassivs Gran Sasso auf 1.200 Metern Höhe. Die Informationen darüber sickerten erst nach und nach durch – auch, weil es Stunden dauerte, bis die ersten Retter auf Skiern den eingeschneiten Unglücksort erreichen konnten.

Eine Woche lang suchten Helfer des Zivilschutzes, der Bergrettung und der Feuerwehr unter extremen Bedingungen in eisiger Kälte zwischen Trümmern und Schneemassen nach Überlebenden.

Seit dem 19. Dezember steht Piergiovanni dort, wo sein Vater Tag für Tag Teig rollte. Elf Monate nach der Rigopiano-Tragödie haben die Brüder die Pizzeria „Via Veneto“ wieder öffnen können, die Sebastiano Di Carlo 2012 aufgemacht hatte. Von morgens bis zwei Uhr mittags sitzt der 18-Jährige in der Schule, danach öffnet er den Laden. Bruder Riccardo unterstützt ihn von Mailand aus, wo er studiert. „Für mich ist die Pizzeria mein Zuhause“, sagt der 20-Jährige. „Dort haben wir die meiste Zeit alle zusammen verbracht.“

„L’amore… per sempre“, „Liebe… für immer“, steht auf der Collage, die die beiden Brüder in der Pizzeria aufgehängt haben. Die Familie mit Eis in den Händen vor dem Pantheon in Rom. Vater Sebastiano und Mutter Nadia, die in Bademäntel gehüllt in die Kamera lachen. Der kleine Edoardo, der seinem Papa um den Hals fällt. „Die Pizzeria wieder aufzumachen bedeutet, wieder aufzustehen“, sagt Riccardo. „Das Erbe unseres Vaters am Leben zu halten.“

Die Eltern waren nur für eine Nacht in das Hotel gefahren, Edoardo nahmen sie mit. Die Familie war oft dort. Immer, wenn sie Ausflüge in die Berge machten, seien sie hingefahren, wenigstens um einen Kaffee zu trinken, sagt Piergiovanni. Das letzte Mal aber blieb er in Loreto. „Ich sagte ihnen, geht, ich bleibe zu Hause, rufe ein paar Freunde an heute Abend, dann machen wir ein bisschen was los“, erinnert sich der 18-Jährige. „Dann haben wir in sozialen Medien, in einigen Posts auf Facebook gesehen, dass es eine Lawine gab, aber wir wussten nicht, ob es Falschmeldungen waren.“ Die darauf folgenden Tagen nennt Piergiovanni „chaotisch“. Die Freunde blieben.

Eine Woche lang suchten Helfer des Zivilschutzes, der Bergrettung und der Feuerwehr unter extremen Bedingungen in eisiger Kälte zwischen Trümmern und Schneemassen nach Überlebenden. Vorsichtig hatten sie sich an verschiedenen Stellen den Weg bis ins Herz des Hotels gebahnt. Nach mehr als 30 Stunden machten die Einsatzkräfte noch Überlebende aus und zogen nach und nach neun von ihnen aus dem Unglückshotel. Im Minutentakt konnte man die Rettungsaktion in den italienischen Medien verfolgen: noch ein Überlebender, wieder ein Toter.

„Bist du okay? Super“, sagte ein Feuerwehrmann zu Edoardo, als er ihn aus einem Loch hob, bevor ihm andere Helfer Rettungsdecken umlegten. Das Video von dem Moment verbreitete sich in Windeseile im Internet. Die letzten Überlebenden wurden noch 58 Stunden nach dem Niedergang der Lawine gerettet.

Edoardo lebt mit Piergiovanni nun bei einer Tante. „Ihm geht es gut“, sagt Piergiovanni. „Er ist ein Draufgänger, lebhaft, er tut eigentlich nichts anderes, als Fußball zu spielen.“ Immer wieder sagt der 18-Jährige: „Wir sind zufrieden.“ Es wirkt nicht aufgesetzt. Nach dem, was passiert ist, den Mut zu verlieren, bedeute auch, den kleinen Bruder im Stich zu lassen, sagt er. „Wir haben eine große Verantwortung, wir müssen ihm Kraft geben.“

Neben Edoardo überlebten zehn weitere Menschen das Unglück – und ein Jahr danach herrscht noch immer keine Klarheit darüber, wie es überhaupt passieren konnte. Die Staatsanwaltschaft schweigt in dem Fall. Italienische Medien graben aber immer wieder Informationen aus, veröffentlichen haarsträubende Telefon-Mitschnitte, die Aufschluss darüber geben, wie chaotisch die Situation vor Ort gewesen sein muss. Zuletzt wurde berichtet, eine Mitarbeiterin der Präfektur habe am Unglücksabend den Carabinieri übermittelt, dass das Hotel bereits am Morgen evakuiert worden sei. Dabei kämpften Menschen im Unglückshotel ums nackte Überleben.

Gegen mehr als 20 Personen wird laut Medienberichten ermittelt, unter anderem wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung. Wurden Hilferufe ignoriert? Warum wurde das Hotel nicht evakuiert, obwohl es tagelang geschneit hatte und die zweithöchste Lawinenwarnstufe galt? Viele Gäste sollen abfahrbereit gewesen sein, bevor das Hotel verschüttet wurde. Sie hatten die Erdbeben gespürt.

Piergiovanni und Riccardo wollen ihr Leben von den bohrenden Fragen nicht bestimmen lassen. „Es war ein merkwürdiges Jahr, in dem wir gelernt haben, mit maximaler Rationalität und Klarheit mit der neuen Situation umzugehen“, sagt Riccardo. „Und am Ende haben wir es geschafft. Uns ist es gelungen, unser Ziel zu verfolgen.“ Nun wollen die beiden auch die zweite Pizzeria im nahe gelegenen Penne wieder aufmachen, die die Familie kurz vor dem Unglück eröffnet hatte. In der Leidenschaft ihrer Eltern haben die Brüder einen Weg gefunden, um die Katastrophe aufzuarbeiten. Einen Grund, um weiterzumachen. (dpa)