„Das nimmt man mit ins Grab“: Ein Vierteljahr nach der Flut

<p>Susanne Dunkel steht in ihrem Haus im Stadtteil Blessem in ihrer neuen Küche, knapp drei Monate nach der Katastrophe.</p>
Susanne Dunkel steht in ihrem Haus im Stadtteil Blessem in ihrer neuen Küche, knapp drei Monate nach der Katastrophe. | Foto: Oliver Berg/dpa

Neulich hat Maria Dunkel wieder schlecht geträumt. Sie stand mit ihrem Mann im Wasser. Tief im Wasser. Ein Nachbar versuchte, sie zu retten. Danach konnte sie nicht mehr einschlafen. Es kann auch passieren, dass sie nachts hochschreckt, weil sie ein Knacken gehört hat. Dann sitzt sie senkrecht im Bett. Was war das? Bewegen sich die Fundamente des Hauses? Aber am schlimmsten ist es, wenn es zu regnen anfängt: Dann steht sie sofort am Fenster und guckt, ob sich Wasser ansammelt. „Es ist ein Trauma.“

Das Haus von Maria und Ulrich Dunkel ist das zweite neben dem großen Loch von Erftstadt-Blessem. Man kann es von ihrem Fenster aus sehen. Vor der Nacht zum 16. Juli wurde die Sicht von zwei Häusern verdeckt. Doch um etwa drei oder vier Uhr morgens versanken sie im Wasser. „Einfach weg“, sagt Ulrich Dunkel (73), der einen Rollator vor sich herschiebt. „Das vergisst man nicht. Das nimmt man mit ins Grab.“

Im Erdgeschoss der Dunkels sieht es aus wie in einem Rohbau: nur nackte Ziegelsteinmauern. Ein paar Leitungen und Anschlüsse sind neu verlegt. Dass sie überhaupt schon so weit sind, haben sie den ehrenamtlichen Helfern zu verdanken, die jedes Wochenende gekommen sind. Männer und Frauen von Anfang 20 bis Anfang 60. Sie stemmten den Estrich heraus, klopften den Putz von der Wand, entsorgten die Möbel. „Wir müssen euch doch helfen“, haben sie gesagt. Kolossal sei das gewesen, erzählt Ulrich Dunkel. „Ich bin noch immer überwältigt.“ Für die Arbeiten, die jetzt gemacht werden müssten, bräuchte man allerdings Fachkräfte wie Heizungsinstallateure und Estrichleger. Und die sind schwer zu bekommen. Außerdem bräuchte man Geld. Bisher haben die Dunkels insgesamt 2.400 Euro an staatlicher Hilfe bekommen, dazu kleinere Zuwendungen von der Caritas und der Arbeiterwohlfahrt. Um das Formular für die Fluthilfen des Bundes und der Länder auszufüllen, benötigte ihr Sohn Thomas Dunkel (47) zwei Stunden. „Wir können nur hoffen“, sagt er. Die geschätzt 100.000 Euro zur Begleichung des Schadens könnten sie aus eigenen Mitteln nicht vorstrecken.

<p>Ein Bagger planiert Erdreich an der Abbruchkante im Stadtteil Blessem. Dort tat sich in der Nacht zum 15. Juli die Erde auf und verschlang mehrere Häuser. Das Loch ist eine Attraktion, das Luftbild davon ging um die Welt.</p>
Ein Bagger planiert Erdreich an der Abbruchkante im Stadtteil Blessem. Dort tat sich in der Nacht zum 15. Juli die Erde auf und verschlang mehrere Häuser. Das Loch ist eine Attraktion, das Luftbild davon ging um die Welt. | Foto: Oliver Berg/dpa

Susanne Dunkel (70), die eine Straße weiter wohnt, hat auch noch kein Geld. Mit der Soforthilfe konnte sie gerade mal eine neue Haustür bezahlen. Eine neue Küche hat sie geschenkt bekommen. Aber noch immer ist ihre kleine Wohnung fast leer. Von ihrem guten Geschirr mit den Blumenmotiven hat sie nur einen einzigen Teller übrig behalten.

Den Antrag auf Fluthilfe konnte sie selber nicht ausfüllen, weil sie kein Internet hat. Ihr Ex-Schwager hat ihr geholfen. Sie hat nicht mehr viele, die sie fragen kann. Im Frühjahr ist ihr Sohn im Alter von 49 Jahren gestorben, die Beerdigung kostete über 10.000 Euro. Das war der Großteil ihres Ersparten.

Bei der Bundestagswahl ist die SPD-Stammwählerin zum ersten Mal in ihrem Leben zuhause geblieben. Neulich hat sie sich selbst Gardinen genäht. Gardinen gegen die Katastrophentouristen, die am Wochenende durch ihre Fenster spähen und filmen. Sie hält sich die Hände vor das Gesicht wie ein Handy: „Den ganzen Sonntag geht das so. Das ist nicht schön, wenn Sie hier sitzen. Das nervt.“

<p>Maria Dunkel steht neben Sohn Thomas Dunkel in ihrem Haus in Erftstadt-Blessem im Eingang eines entkernten Raumes.</p>
Maria Dunkel steht neben Sohn Thomas Dunkel in ihrem Haus in Erftstadt-Blessem im Eingang eines entkernten Raumes. | Foto: Oliver Berg/dpa

Das Loch von Erftstadt-Blessem ist eine Attraktion. Das Luftbild davon ging um die Welt. Wie ein rheinischer Grand Canyon dehnt sich die durch den Erdrutsch entstandene Schlucht bis zum Horizont aus. Timo, ein Anwohner, der seinen Nachnamen nicht nennen will, kennt einen Weg bis zur Kraterkante. Der Pfad führt vorbei an den Ruinen eines Reiterhofs. In der Ecke liegen noch Pferdedecken, in den Ställen ist noch Stroh, aber die Rückwände und Dächer fehlen. Der Zaun der einstigen Reitwiese baumelt über dem Abgrund. Für viele Blessemer steht fest, dass der Erdrutsch durch die unmittelbar angrenzende Kiesgrube ausgelöst wurde. „Ich habe die Grube 50 Jahre lang wachsen sehen“, sagt Timo. „Direkt am Wohngebiet, direkt an der Erft, direkt an der Autobahn.“ Zurzeit ist die Grube außer Betrieb, aber ob das so bleibt, steht nicht fest. „Wenn die weitermachen, dann werden hier Lastwagen brennen“, prophezeit Timo düster.

Maria Dunkel sagt, dass sie dann zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrieren gehen will. Unmittelbar nach der Flut wollte die 67-Jährige nie mehr zurück an die Kraterkante. Aber ihr Mann hat sie dann doch überzeugt: Die Mietwohnung, in der sie vorübergehend untergekommen waren, war einfach zu teuer. „Maria, da rutscht nichts ab“, hat er ihr versichert. „Und wenn doch was abrutscht, dann geben wir uns die Hand und gehen zusammen ins Loch.“

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