Tomaten vom Dach: Dieser Eupener betreibt in Brüssel „Urban Gardening“



„Die Konsumenten wollen einfach zunehmend wissen, woher die Lebensmittel stammen, die sie auf ihren Tellern haben“, sagt Mathias De Vos. Einen Teller hat der Eupener zwar nicht vor sich, aber dafür ein knapp 2.000 Quadratmeter großes Gewächshaus, das über den Dächern der Gemeinde Anderlecht thront. Hinter den etwa zehn Meter hohen Scheiben dominiert die Farbe Grün, aber auch kleine, rote Punkte schimmern durch. „Hier züchten wir unsere Tomaten“, kommentiert der 27-Jährige, „und das von Januar bis November. Unter dem Strich circa 16 Tonnen jährlich.“

Mit „wir“ meint Mathias De Vos das Brüsseler Start-up BIGH, das Anfang 2016 das Konzept des sogenannten Urban Gardening – das Gärtnern in der Stadt – „oben“ auf dem FoodMet-Markt, der sich auf dem Gelände des historischen Schlachthofs Abattoir befindet, in die Spur gebracht hat. „Unsere Intention ist es, Lebensmittel inmitten der Großstadt zu produzieren, die dafür benötigten Ressourcen auf ein Minimum zu beschränken und gleichzeitig möglichst ökologisch zu arbeiten“, erklärt der studierte Bio-Ingenieur. Ein Bestreben, das die Firma unter anderem mit dem sogenannten Aquaponik-System, das – glaubt man den Anhänger dieser innovativen Technik – im optimalen Fall die Welternährung sichern könnte, erreichen will. Aqua-was, bitte?

Was nach einer neuen Form von Wasser-Aerobic klingt, ist ein nachhaltiges Produktionsverfahren von Nahrungsmitteln, bei dem Tiere, genauer gesagt Fische, und Pflanzen „zusammenarbeiten“. Das Wort Aquaponik setzt sich dabei aus den Fachbegriffen für Fischzucht (Aquakultur) und erdfreie Pflanzenzucht in Nährlösungen (Hydroponik) zusammen. Konkret sieht das Ganze in Anderlecht wie folgt aus: Auf der einen Seite steht ein riesiges Gewächshaus, in dem unten die Tomaten und oben die Bio-Kräuter in Hydrokultur gedeihen, auf der anderen Seite befinden sich große schwarze Wassertanks, in dem Streifenbarsche schwimmen. „Die Fische und Pflanzen bilden dabei einen verbundenen Wasser- und Nährstoffkreislauf, wobei die Streifenbarsche die Pflanzen ernähren“, verdeutlicht Mathias De Vos.

Aber wie genau funktioniert das Ganze? Der Knackpunkt liegt in der speziellen Aufbereitung des Wassers, wenn es von den Fischtanks in die Nährlösungen, in denen die Tomaten und die Kräuter gezüchtet werden, fließt. Denn die flüssigen Ausscheidungen der Fische, giftiges Ammonium, wandeln Mikroorganismen in Nitrat um. „Ein idealer Dünger für die Pflanzen“, betont Mathias De Vos. Dieser „Biofilter“ ist zudem für den geschlossenen Fischzucht-Wasserkreislauf vital, denn das Ammonium, das Bakterien im Biofilter umgewandelt haben, wäre für die Wasserbewohner auf Dauer schädlich.

Nicht schädlich, aber dafür fördernd ist die Aquaponik-Farm für die Umwelt. „Wir sparen durch das System nicht nur Ackerflächen, sondern vor allem Düngemittel und Wasser“, bringt es De Vos auf den Punkt und fügt hinzu: „Das ganze System ist so ausgereift, dass nur ganz selten Wasser ersetzt werden muss – in der Regel nicht mehr als fünf Prozent pro Tag.“

Aber auch die extrem kurzen Transportwege, der Verzicht auf Pestizide – Insekten schützen die Pflanzen vor Schädlingen – und der wesentlich geringere Plastikverbrauch im Vergleich zu konventionellen Betrieben hat BIGH inzwischen einige Befürworter und Kunden gebracht. Ein wichtiger Baustein des Start-ups ist hierbei die Transparenz. „Die war von Anfang an fundamental für das Projekt“, erklärt er. So finden in der Aquaponik-Anlage in Anderlecht fast wöchentlich Führungen für Interessierte statt, die sehen wollen, wie es möglich ist, dass man Fisch und Gemüse mitten in ihrer Stadt produzieren kann, und das zum Anfassen und auch noch nachhaltig.

Es scheint, als hätte das Brüsseler Unternehmen eine „perfekte“ Lösung gefunden, um der globalisierten Lebensmittelindustrie ein neue Regionalität entgegenzusetzen, die kommerziell funktioniert. „Davon sind wir auf jeden Fall überzeugt“, sagt der Eupener.

Nicht überzeugt von Aquaponik-Systemen sind dagegen Tierschützer, vor allem was die Fischzucht angeht. „Fische sind Lebewesen, kein Gemüse. Heute wissen wir, dass ein Fisch ein ‚Jemand‘ ist und kein ‚Etwas‘. Vor diesem Hintergrund ist es ein Armutszeugnis, die tierquälerische Aquaponik-Methode zu glorifizieren“, wird Dr. Tanja Breining, Biologin und Fachreferentin für Fische und Meerestiere bei der Tierrechtsorganisation PETA, auf der deutschen Internet-Plattform „Focus Online“ zitiert: „Die sensiblen Wirbeltiere sind individuelle Persönlichkeiten. Sie haben ein reiches Sozialleben, schließen Freundschaften, kommunizieren und spielen. Da all das in der Aquaponik-Zucht nicht möglich ist, stellt diese einen Verstoß gegen das Tierschutzgesetz dar.“

Aussagen, die Mathias De Vos und seine Kollegen von BIGH kontern, denn die Streifenbarsche, die sich derzeit in der Anlage tummeln, führen „ein weitaus besseres Leben als Fische in weniger modernen Fischanlagen.“ „Dieser Schwarmfisch braucht ein enges Gruppengefühl und ist vom World Wildlife Fund (WWF; A. d. R.) für Kreislaufanlagen freigegeben. Die Streifenbarsche haben bei uns außerdem weder zu wenig Raum zum Leben, noch verstoßen wir auf irgendeine Art und Weise gegen das Tierschutzgesetz“, unterstreicht er und fügt hinzu: „Tierschützer werden außerdem immer etwas gegen jegliche Art von rentabler Fischzucht zu sagen haben.“

Die Fische kommen übrigens als „Setzlinge“ nach Anderlecht und werden in getrennten Becken mit einer konstanten Wassertemperatur von 24 Grad Celsius großgezogen. Gefüttert werden die Streifenbarsche „selbstverständlich“ mit Biofutter, und nur damit. „Denn Antibiotika können wir ihnen nicht geben, die würden das gesamte Aquaponik-System zerstören“, argumentiert De Vos. Nach sieben Monaten haben die Tiere ihr Schlachtgewicht erreicht und werden als „Brüsseler Streifenbarsch“ – immerhin rund 35 Tonnen pro Jahr – an lokale Supermärkte, Fachgeschäfte und Restaurants in der Nähe geliefert. „In ganz Brüssel gibt es keinen frischeren Fisch“, ist der 27-Jährige sich sicher – genau wie von der Aussage, dass, wenn Aquaponik überall auf der Welt salonfähig werden würde, das Verfahren ein wichtiges Mittel im Kampf gegen den Welthunger sein könnte, „vor allem, weil Fische vergleichsweise schnell wachsen und viele wichtige Proteine liefern“.

Anderlecht ist für das Start-up BIGH erst der Anfang: „Denn wir wollen mit Blick in die Zukunft noch weitere Farmen auf den Dächern der Hauptstadt, Belgiens und Europas errichten.“