Wie Hitler den letzten Hort der Demokratie in Mitteleuropa zerschlug

Es waren dramatische Stunden, die sich vor genau 80 Jahren im „Führerbau“ am Königsplatz in München abspielten. Nazi-Deutschland wollte sich die überwiegend deutsch besiedelten Sudetengebiete der Tschechoslowakei einverleiben. Die Regierungschefs Großbritanniens, Neville Chamberlain, und Frankreichs, Édouard Daladier, gaben nach. In der Nacht vom 29. zum 30. September 1938 unterzeichneten die Großmächte das Münchner Abkommen. Der Friede schien noch einmal gerettet.

Als deutsche Truppen in den folgenden Tagen das Sudetenland besetzten, trafen sie auf keinen Widerstand. Und das sorgt in Tschechien bis heute für kontroverse Diskussionen. „Hätten wir uns verteidigen sollen?“, titelte das Nachrichtenmagazin „Respekt“ aus Prag vor wenigen Tagen, begleitet von der Illustration eines Soldaten mit Gasmaske und Fotos von Mobilmachungsübungen.

Die Autoren malen sich aus, wie sich die tschechoslowakische Armee in den Bunkern ihres Grenzbefestigungswalls verschanzt hätte, nur um letztlich doch den Rückzug anzutreten. Der Zweite Weltkrieg wäre gut ein Jahr früher ausgebrochen. „Wenn die Verluste zehn Prozent betragen hätten, also rund 100 000 Gefallene, wäre das aus militärischer Sicht ein Erfolg gewesen“, schreibt „Respekt“ und schließt mit den Worten: „Lieber schnell zurück in die Realität.“

Das Münchner Abkommen bedeutete das Ende für die erste Tschechoslowakische Republik, Präsident Edvard Benes ging ins Exil. Der noch junge Staat war erst 20 Jahre zuvor, am 28. Oktober 1918, ausgerufen worden. Das Hundertjahr-Jubiläum der Unabhängigkeit von Österreich-Ungarn wird in diesem Jahr in Prag und Bratislava groß gefeiert – mit Ausstellungen, Briefmarken, Militärparaden, Politikerreden und Fernsehsendungen.

„Die Tschechoslowakei war die letzte Demokratie in Mitteleuropa – das ist etwas, worauf wir stolz sein können“, sagt der Schriftsteller Jaroslav Rudis, Autor von Romanen wie „Grandhotel“ und „Nationalstraße“. Angesichts des Aufstiegs der Nationalsozialisten sei der Staat zu einem Zufluchtsort geworden – für Antifaschisten, Kommunisten, Sozialdemokraten und Liberale aus Deutschland, hebt der 46-Jährige hervor. Ein prominentes Beispiel ist die Schriftsteller-Familie Mann, die sogar die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erhielt. „Die Tschechoslowakei war ein Land, das Flüchtlinge aufgenommen hat“, sagt Rudis, der gerade an einem Roman über die Zwischenkriegszeit in Liberec (Reichenberg) schreibt. Das sei ein Moment, der ihm in der derzeitigen Erinnerungskultur seines Landes zu kurz komme. In Tschechien ist es heute nicht populär, zu Flüchtlingsschutz und Europäischer Union zu stehen. Der ehemalige Präsident Vaclav Klaus verglich den EU-Mehrheitsbeschluss für Flüchtlingsquoten jüngst sogar mit dem Münchner Abkommen.

Es sei eine Entscheidung „über uns ohne uns“ gewesen – also über die Köpfe des kleinen Landes hinweg. Ähnlich hatte sich bereits vor zwei Jahren der Vorsitzende der tschechischen Christdemokraten (KDU-CSL), Pavel Belobradek, geäußert. Rudis hat dazu eine klare Meinung: „Ich finde es immer sehr gefährlich, wenn Politiker versuchen, damals mit heute zu vergleichen und das zu instrumentalisieren.“ Hätte die Sudetenkrise 1938 vermieden werden können, wenn die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei besser integriert worden wäre?

Der Prager Historiker und Slowakei-Experte Michal Stehlik räumt ein, dass die tschechoslowakische Nation ein „künstliches Konstrukt“ gewesen sei, das die drei Millionen Menschen starke deutsche Minderheit marginalisieren und den neuen Nationalstaat stabilisieren sollte. Tschechen und Slowaken gehen seit der Staatsteilung 1993 wieder getrennte Wege.

Doch Stehlik betont auch: „Für eine radikal andere Nationalitätenpolitik war unter den damaligen Umständen nicht viel Raum – und selbst das hätte die deutsche Aggression nicht verhindern können.“ Tatsächlich bekräftigte Hitler nur zwei Tage nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens gegenüber seinem Propagandaminister Goebbels seinen „Entschluss, einmal die Tschechei zu vernichten“. Ein halbes Jahr später rückte die Wehrmacht in Prag ein.

Das „Diktat von München“ wirkte noch lange nach. Das Vertrauen in die westlichen Verbündeten England und Frankreich war untergraben. Die Sowjetunion nutzte diese Stimmung nach dem Krieg geschickt, um sich als „treuer Bruder“ zu präsentieren. „Das hat den Weg für den kommunistischen Umsturz 1948 freigemacht“, erzählt Rudis. 1918, 1938, 1948 und 1968, das Jahr des Sowjeteinmarschs – nicht von ungefähr wird die Acht dieser Tage in zahlreichen Zeitungsartikeln als „tschechische Schicksalszahl“ beschworen. (dpa)