Kleine Geschichte der Bestseller

Cover (Ausschnitt) des Buches „Bestseller“ von Jörg Magenau | Hoffmann und Campe Verlag/dpa

„Wer nicht eine Million Leser erwartet, sollte keine Zeile schreiben“, meinte schon der alte Goethe, der mit seinem „Werther“ einen für damalige Verhältnisse veritablen Bestseller landete. Das Buch traf seinerzeit eine gesellschaftliche Stimmung und hatte eine ungeheure Wirkung vor allem auf junge Menschen und unglücklich Verliebte. „Jedes Buch trifft nicht bloß auf seine Leser, sondern auch einen besonderen Augenblick“, in dem sich viele Sehnsüchte und Stimmungen und damit eine kollektive Befindlichkeit bündeln“, meint der Literaturkritiker Jörg Magenau in seiner kleinen Geschichte der meist westdeutschen Bestseller vor allem nach 1945 („Bestseller“, Hoffmann und Campe Verlag).

Der Erfolg mancher Bestseller macht Literaturkritiker aber auch schon mal ratlos wie zum Beispiel Hape Kerkelings sensationell erfolgreiches Pilgerbuch „Ich bin dann mal weg“. Die Prominenz des Autors allein kann es nicht gewesen sein, meint Magenau, es gebe schließlich viele Bücher von Prominenten, die schnell wieder vergessen sind. Und die Suche nach einem Sinn im Leben sei auch kein Spezifikum der Jahre 2006 und 2007 gewesen. Diese und andere Beispiele von erfolgreichen Romanen und Sachbüchern verknüpft Magenau zu einem interessanten Streifzug durch die Bestsellergeschichte der Bundesrepublik und wirft damit auch Schlaglichter auf die jeweiligen Zeitstimmungen.

Die DDR wird dabei nur gestreift, wenn es um deren Bucherfolge im Westen geht, die aber eher selten die westdeutschen Bestseller-Größenordnungen erreichten, auch wenn zum Beispiel Christa Wolf, Stefan Heym und – eingeschränkter – Hermann Kant die Aufmerksamkeit auch westdeutscher Leser (und Kritiker) erregten. Die Bucherfolge der aus Ostdeutschland kommenden Autoren Ingo Schulze, Uwe Tellkamp und Eugen Ruge stammen aus der Zeit nach dem Mauerfall 1989. „Als Leser in Ost und West wurden wir auf unterschiedliche Weise heimisch im versunkenen Land“, schreibt Magenau. Und das ist ja dann auch wieder eine eigene Geschichte unabhängig von Bestsellern.

Als Deutschland noch in Trümmern lag, verschlangen die Westdeutschen einen „Roman der Archäologie“ mit dem Titel „Götter, Gräber und Gelehrte“ über Pharaonengräber und das verschüttete Pompeji oder den Trojanischen Krieg. Autor war der Journalist und Rowohlt-Lektor Kurt W. Marek, der das Buch unter dem Pseudonym C.W. Ceram veröffentlichte. Das im November 1949 erschienene Buch war über Jahrzehnte der größte deutsche Sachbuchbestseller nach 1945. „In den Ruinenlandschaften der zerstörten deutschen Städte wirkten die verschütteten Überreste ferner Epochen besonders anziehend“, ist Magenaus Erklärung für den frühen Erfolg des Buches, was allerdings die länger anhaltende Publikumsresonanz auch nicht erklärt.

Der erste große und auch verfilmte Naturbestseller war 1959 „Serengeti darf nicht sterben“.

Der erste große und auch verfilmte Naturbestseller der Bundesrepublik war 1959 „Serengeti darf nicht sterben“ vom Frankfurter Zoodirektor und TV-Tierexperten Bernhard Grzimek über die bedrohte Tierwelt in Afrika. Grzimek ist für Magenau der erste Umweltschützer der Bundesrepublik – gemeint ist wohl der erste prominente. Sein Beispiel zeige im Übrigen eines der verlässlichsten Erfolgsgeheimnisse am Buchmarkt – ob Hape Kerkeling, Eckart von Hirschhausen, Peter Hahne oder Peter Scholl-Latour: wenn bekannte „Fernsehgesichter“ auch noch Bücher schreiben, „verkaufen sich die Bücher von alleine“ – fast, muss man wohl hinzufügen.

In den 50er Jahren erschienen auch die Lebenserinnerungen des berühmten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch („Das war mein Leben“) als der erste große Memoirenbestseller der Nachkriegszeit in Westdeutschland. In den nächsten Jahrzehnten sollten Theodor Heuss, Albert Speer, Carl Zuckmayer, Hildegard Knef und Marcel Reich-Ranicki auf den westdeutschen Memoiren-Bestsellerlisten auftauchen.

Der erfolgreichste Roman der 50er Jahre war Hugo Hartungs Studenten- und Liebesromanze in der ungarischen Puszta, „Ich denke oft an Piroschka“, auch auf der Leinwand ein Kassenschlager mit Liselotte Pulver und Gunnar Möller. Ungarn als Sehnsuchtsland mit Paprika, Maisfeldern, Ziehbrunnen und „dauerfiedelnden ‚Zigeunern‘“, wie Magenau schreibt, aus einer Zeit, „als wir Deutsche in Ungarn noch freudig begrüßt und sogar geliebt wurden“.

Noch am Ende der scheinbar idyllischen 50er „Wirtschaftswunderjahre“ war die „Blechtrommel“ von Günter Grass ein Paukenschlag in der Nachkriegsliteratur, die vor allem auch Heinrich Böll mit seinen zeitkritischen Büchern über die junge Bundesrepublik („Haus ohne Hüter“, „Das Brot der frühen Jahre“) prägte. Für Magenau war Johannes Mario Simmel mit seinen Unterhaltungs-Bestsellern wie „Der Stoff, aus dem die Träume sind“ oder „Es muss nicht immer Kaviar sein“ und dem Ziel, Publikumserfolg und politischen Anspruch zu verbinden, nicht weniger moralisch als Böll, „politisch womöglich sogar radikaler als der doch auch recht konventionell erzählende Nobelpreisträger“. Ein unkonventioneller Gedanke über Stellenwert und Wirkung deutscher Nachkriegsliteratur.

Dazu gesellte sich später mit Hildegard Knef eine schriftstellernde und singende Schauspielerin, die mit ihrem autobiografischen Buch „Der geschenkte Gaul“ 1970 einen im Genre der Memoirenliteratur bis dahin unerreichten Erfolg erzielte, wie Magenau betont.

Ungebrochen bleibtaber der Hang zur Idylle und Innerlichkeit.

Weniger rückblickend als die Knef, sondern vielmehr gegenwartsnah-brutal ist die Geschichte der Christiane F. und der „Kinder vom Bahnhof Zoo“ über drogensüchtige und ziellose Jugendliche inmitten der Wohlstandsgesellschaft. Aufgeschrieben haben das die beiden Journalisten Kai Hermann und Horst Rieck nach Tonbandprotokollen. Das auch verfilmte Buch gehört ebenfalls zu einem der erfolgreichsten deutschen Sachbücher nach 1945 – und ist bis heute aktuell: Die Zahl der Drogenopfer ist heute wieder höher als in den 70er Jahren zur Entstehungszeit des Bestsellers. Ungebrochen bleibt aber der Hang zur Idylle und Innerlichkeit bei den Lesern. Ein Förster aus der Eifel wird zu Deutschlands meistgelesenem Autor der Gegenwart. Peter Wohlleben traf mit seinem „Geheimen Leben der Bäume“ die „deutsche Seele“ offenbar im Innersten, der „Baumflüsterer“ (Magenau über den Autor) ließ ab 2015 zeitweise Hitler, den Papst und auch den Dalai Lama auf den Bestsellerlisten der Sachbücher hinter sich.

Je unübersichtlicher und chaotischer das Weltgeschehen zu werden drohte, so Magenau, „umso stärker rückte die Natur in den Blick“, was sicherlich auch keine neue Erscheinung ist. Aber das sind auch nur Wellenbewegungen in der launischen Geschichte der Bestseller, die Magenaus Geschichte über „Bücher, die wir liebten – und was sie über uns verraten“ erhellend und detailreich erzählt. Manchmal dringt dabei der Literaturkritiker als Literaturwissenschaftler allzu theorie- und deutungssüchtig durch. (dpa)