Angriff auf Schule trifft Russland an empfindlicher Stelle

Gedenken an die Opfer: Weil Russland noch nicht lange über die ukrainische Halbinsel herrscht, reagiert die Moskauer Staatsmacht äußerst nervös. | afp

Bei 19 Toten und mehr als 40 Verletzten stand die traurige Zählung im Politechnischen Kolleg von Kertsch am Mittwochabend. Ein Terroranschlag, ein Amoklauf? Der Angriff erinnert Russland an einige seiner schlimmsten Albträume. Und er ereignete sich ausgerechnet auf der Halbinsel Krim, die Russland erst vor vier Jahren der Ukraine weggenommen hat.

Die Heimholung des Gebiets am Schwarzen Meer trieb 2014 die Popularität des Präsidenten Wladimir Putin bei seinen Landsleuten in ungeahnte Höhen. Doch bis auf wenige Ausnahmen sieht der Rest der Welt den Anschluss als Verletzung des Völkerrechts. Ein eigens organisiertes Krim-Referendum wird nicht anerkannt. Und in Moskaus Herrschaft über die Halbinsel schwingt immer Nervosität mit.

Schüsse in einer Schule hat Russland schon einmal durchlebt. „Ein Terrorakt wie in Beslan“, sagte Schuldirektorin Grebennikowa. Am 1. September 2004 stürmten tschetschenische Terroristen die Schule der Stadt Beslan im Nordkaukasus und nahmen mehr als 1.100 Geiseln. Nach drei Tagen endete das Drama in einer missglückten Befreiungsaktion. In der stundenlangen Schießerei starben 331 Geiseln, darunter mehr als 180 Kinder.

Doch in Kertsch scheint es eher um den anderen Alptraum aller Lehrer, Schüler und Eltern zu gehen – den Amoklauf eines Schülers. Ein 18-jähriger Berufsschüler soll auf seine Kameraden geschossen und einen Sprengsatz gezündet haben.

Auch Amokläufe an Schulen hat es in Russland schon gegeben, doch noch nie mit so schweren Folgen wie in Kertsch. Im Januar 2018 ereigneten sich innerhalb einer Woche gleich drei Vorfälle mit insgesamt rund zwei Dutzend verletzten Jugendlichen: Im sibirischen Ulan-Ude, im Gebiet Tscheljabinsk und in der Stadt Perm wurden sie von Mitschülern mit Messern oder einer Axt angegriffen. Doch der massive Einsatz von Schusswaffen in Kertsch erinnert eher an das Massaker in einer Schule in Columbine in den USA 1999. Damals hatten zwei Schüler 13 Menschen erschossen und 24 verletzt.

Kertsch, 144.000 Einwohner, ist auf der Krim nicht irgendeine Stadt. Durch Kertsch laufen aller Verkehr und die gesamte Versorgung der Halbinsel aus Russland. Hier kommen die Fähren vom Festland an. Hier endet die neugebaute Brücke, die seit Mai befahren werden darf – ein milliardenteures Prestigeobjekt des Kremls. Denn eine natürliche Verbindung hat die Krim nur zum ukrainischen Festland.

Durch die Meerenge von Kertsch fahren russische wie ukrainische Schiffe ins Asowsche Meer. In dem flachen Binnenmeer, das dicht am Kriegsgebiet Ostukraine liegt, haben die Spannungen in den vergangenen Monaten zugenommen. Beide Seiten haben mehr Marineschiffe entsandt. Es ist also kein Wunder, dass die russische Führung direkt nach dem Angriff Zivilschutz, Geheimdienste, Militär und das Anti-Terror-Komitee alarmierte und den Schutz der Brücke verstärkte.

Für Unglücke und Anschläge auf der Krim hat Russland in den vergangenen Jahren immer die Ukraine verantwortlich gemacht. Auch diesmal sagte der russische Abgeordnete Franz Klinzewitsch vom Föderationsrat, man solle nach einer „ukrainischen Spur“ suchen. „Das können offizielle Strukturen sein oder verkommene Nationalisten, die aus Hass auf Russland zu allem fähig sind“, sagte er.

Das scheint unwahrscheinlich, weil der mutmaßliche Täter in sozialen Netzwerken stolz Bilder von Putin gepostet haben soll. Doch die Ukraine verstärkte vorsorglich die Sicherheit an den Übergängen zur Krim. (dpa)