2.355 Kilometer weit weg vom Berlaymont

<p>Lotta Backlund, TV-Produzentin und Mutter einer neunjährigen Tochter, sitzt im Café „Engel“ und spricht über Europa.</p>
Lotta Backlund, TV-Produzentin und Mutter einer neunjährigen Tochter, sitzt im Café „Engel“ und spricht über Europa. | Henri Vogt/dpa

Es ist der Tag, nachdem die Europäische Volkspartei, kurz EVP, in der finnischen Hauptstadt den Deutschen Manfred Weber zum Spitzenkandidaten für die Europawahl im Mai gekürt hat. „Ganz Europa schaut heute auf uns“, hatte Weber gesagt und dass er ab Herbst als neuer Präsident der EU-Kommission „Europa den Bürgern zurückgeben“ will.

Die erste Frage an die EU-Bürgerin Lotta Backlund liegt deshalb nahe: Wie finden Sie Manfred Weber? „Ich kenne ihn gar nicht“, sagt Backlund. Wissen Bürger überhaupt, was ein Kommissionspräsident tut? „Nicht so konkret“, gesteht Backlund. „Das ist doch sehr abstrakt.“

Die Europäische Union und ihre Bürger – drei Monate vor der Abstimmung über ein neues Parlament ist das eine schwierige – derzeit noch 28 – Länder der Union geben Populisten die großen Volksversteher. Sie wettern gegen Brüssel und gegen die sogenannten Eurokraten. Die reagieren verschreckt. Furchtsam fahren Profi-Europäer das Hörrohr aus zum Puls der Wählerinnen und Wähler. Warum sind sie so zornig? Was wünschen sie?

Denn es ist doch so: Wer nach Brüssel kommt, wundert sich über die vielen Eigenarten dieser sperrigen Union, über die undurchsichtige Maschinerie und unendliche Prozesse. Und wer sich nicht mehr wundert, wird plötzlich unsicher über das Leben da draußen jenseits der Gipfel, Glaspaläste und Generaldirektionen. Was verstehen die Europäer von „Brüssel“? Und was erwarten sie von der „Schicksalswahl“ im Mai? Das ist der Ausgangspunkt dieser Besuche in entlegenen Winkeln des Kontinents, auf einen „Kaffee mit Europa“.

Die Geschichte mit dem Wanderzirkus zwischen Brüssel und Straßburg findet die Finnin „dumm“.

Lotta Backlund, 38, ist TV-Produzentin und Mutter einer neunjährigen Tochter. Früher tourte Lotta als Stand-up-Comedian durchs Land. Die lebhafte Frau spricht perfektes Amerikanisch – dank der in Finnland nicht synchronisierten Serien, wie sie sagt. Sie ist als frühere Mitarbeiterin des Bürgermeisters von Helsinki politisch versiert. Doch die EU ist auch für sie sehr weit weg.

„Ich weiß, dass die EU viel kommuniziert, und es gibt so viele Informationen. Aber ich glaube, das kommt nicht bei den Leuten an“, sagt Backlund. Umso hartnäckiger seien die Legenden, etwa über den angeblich vorgeschriebenen Krümmungsgrad der Gurken. Auch Lotta weiß sofort, was sie an der EU nervt: „Ich finde es das Dümmste der Welt, zwei Parlamentssitze zu haben.“ Neben Brüssel auch Straßburg.

Für Lotta Backlund ist die EU nicht integriert genug. Viele europäer stehen der Union aber eher skeptisch gegenüber.

Aber das heißt alles nicht, dass sie an Europa zweifelt, im Gegenteil. Den Euro – mit dem die Menschen in 19 Ländern bezahlen – findet die Finnin gut. Nationalismus stört sie. Sie will, dass die EU enger zusammenwächst, zu einer Art Vereinigte Staaten von Europa. „Das wäre sinnvoller“, meint sie.

Aber läuft nicht alles gerade in die andere Richtung? Müssen wir nicht eher fürchten, dass die EU auseinanderfällt? „Ich hoffe nicht.“ Backlund denkt einen Moment nach. „Ich glaube nicht, dass sie jemals auseinanderfällt. Es gibt so viele starke Einflüsse, die das nicht wollen.“

Lotta Backlund muss los. Sie verabschiedet sich fröhlich ins Nebelgrau der finnischen Hauptstadt. Zurück bleibt das Gefühl, dass Europa wohl doch so bald nicht untergeht. Aber auch die Ahnung, dass diese Frau nicht unbedingt repräsentativ ist.

Im Eurobarometer vom November 2018 sagten nur 43 Prozent der Befragten, sie hätten ein positives Bild der EU. 42 Prozent vertrauen der Union, während 48 Prozent eher kein Vertrauen haben. Nur 16 Prozent plädieren wie Backlund für eine „richtige Regierung der gesamten Europäischen Union“. Nach Projektionen zur Europawahl könnten rechtspopulistische, EU-kritische Parteien im Mai 20 bis 25 Prozent der Sitze im nächsten Europaparlament bekommen – Parteien wie die AfD, die einen Radikalumbau der EU wollen oder sogar ihr Ende.

Finnland hat eine EU-skeptische Partei schon seit 1995. Früher nannten sie sich die Wahren Finnen, heute einfach Finnen. Bei der Europawahl 2014 holten sie knapp 13 Prozent der Stimmen. Vielleicht sollte man lieber sie fragen, warum das alles so schwierig ist mit der EU?

Auch in Finnland gibt es EU-Wutbürger. Insgesamt könnten Ende Mai die EU-Skeptiker bis zu 25% der Mandate im EU-Parlament erringen.

Die Parteizentrale ist nicht weit vom Café „Engel“, zu Fuß zehn Minuten. Sie liegt im Obergeschoss eines Klinkerbaus in einer Seitenstraße. Im Erdgeschoss ein „Gentleman’s Club“, im Nachbarhaus ein Falafelstand. Die Büros der Finnen-Partei sind weitgehend verlassen an diesem Freitagmorgen, auch Parteichef Jussi Halla-aho ist mit dem Fahrrad los zum nächsten Termin.

Zeit nimmt sich aber sein Bürochef Kai Järvikare, viel Zeit. Der rundliche Herr ist zuvorkommend und freundlich. „Mit Politik habe ich nichts zu tun“, sagt er. Er sei Verwaltungsmann. Stolz führt er durch die Räume.

Ganz hinten neben dem leeren Chefzimmer liegt das ebenfalls verwaiste Büro von Matti Putkonen, genannt „der Arbeiter“. Seine Karriere startete er als Gewerkschafter und Sozialdemokrat, heute ist er eine Art Sprachrohr der finnischen Wutbürger.

Mit simplen Youtube-Videos werden die Jugendlichen aufgerufen, „Make Finland great again“.

In der Parteizentrale produziert er regelmäßig Videos für den Youtube-Kanal der Finnen. Das geht erstaunlich simpel in einem winzigen Studio am anderen Ende des Gangs. Auf grüne Laken werden schicke Hintergründe projiziert, so dass die Videos fast wirken wie professionelles Fernsehen.

Järvikare führt weiter, vorbei an der Raucherkabine, in der „Matti der Arbeiter“ eine alte Reklame für filterlose North-Star-Zigaretten aufgehängt hat. Dann geht es rechts den Gang hinunter. Und dort findet sich doch noch jemand, der an diesem Freitag Politik macht.

Die scheidende Generalsekretärin der Jugendorganisation der Finnen, Marika Sorja, entschuldigt sich für das Durcheinander in ihrem Büro. Auf dem Boden liegen Wahlplakate und Kisten. Aus Regalen quellen Parteiwimpel, Finnlandflaggen, Sweatshirts und Mützen. „MAKE FINLAND GREAT AGAIN“, prangt da auf blauem Grund.

Die Jugendorganisation sei noch EU-skeptischer als die Partei, sagt Sorja und plädiert ohne Zögern für den „Fixit“: den EU-Austritt ihres Landes. Mehr noch: „Ich glaube, die EU sollte zusammenbrechen.“ Zumindest in ihrer jetzigen Form. Wenn man sich auf die Ursprünge besinnen würde, Handel, Sicherung der Außengrenzen, Verteidigung, dann wäre das etwas anderes. Aber so?

Brüssel sei so weit entfernt von den Menschen und entscheide über die Köpfe der Nationalstaaten hinweg, ob nun bei der Verteilung von Migranten oder bei den Krediten für Griechenland. „Viele Bürger und sogar Leute, die sich mit Politik auskennen, verstehen nicht, was in der EU passiert“, meint die blonde Frau Anfang 30. Da ist es wieder: das verworrene, undurchsichtige Brüssel. So unterschiedlich Lotta Backlund und Marika Sorja sein mögen, so gegensätzlich ihr Blick auf dieses Europa: An diesem einen Punkt treffen sie sich.

Der „EU-Erklärer“ kommt aus Finnland. Als Kommunikationschef der EU verfügt er über 1.000 Mitarbeiter und 122 Millionen Euro.

Schmerzen muss das einen anderen Finnen, Timo Pesonen. In Brüssel war er die vergangenen Jahre so etwas wie der Ober-Erklärer der Union – der Generaldirektor der Generaldirektion Kommunikation der EU-Kommission. Unter ihm arbeiten 1000 Leute daran, den 500 Millionen Europäern ihre Gemeinschaft nahe zu bringen. 2017 kostete das 122 663 217,52 Euro, so steht es im Jahresbericht.

Zu Pesonens Eckbüro im zweiten Stock der Kommissionszentrale Berlaymont führen verwinkelte Gänge, gesäumt von vergilbten Kunststoffverkleidungen. Pesonen ist ein ruhiger Mann Ende 50, der genauso lange für die EU in Brüssel streitet wie die Wahren Finnen sie bekämpfen: seit 1995. Den Kaffee hat er vor Jahren aufgegeben, als er Probleme mit dem Magen bekam. 15 Tassen pro Tag waren zu viel. Er trinkt Tee. Also auf einen „Tee mit Europa“.

122 Millionen Euro – was machen Sie denn mit dem ganzen Geld? Pesonen stutzt, dann zählt er auf: Am teuersten sind die Vertretungen der Kommission in den EU-Ländern, die Mitarbeiter, die Immobilien. Dann natürlich die Publikationen und Übersetzungen, der audiovisuelle Dienst, der Pressesprecherservice, die Medien-Auswertung, die Social-Media-Teams, die Webseiten, das Besucherzentrum mit jährlich 50 000 Interessierten. Dazu kommen die Selbstdarstellungs- und Themenkampagnen. Und schließlich die Bürgerdialoge. 1200 waren es seit 2014 nach Kommissionsangaben. 160 000 Europäer kamen.

Diese Diskussionen mit richtigen Menschen sind für die Kommission ein Riesending. In Frankreich setzt Präsident Emmanuel Macron aufs gleiche Rezept mit seiner „großen nationalen Debatte“. Der dortige Aufstand der Gelbwesten überraschte vielleicht ähnlich wie 2016 die Brexit-Entscheidung der Briten. Die Bürger verstehen die Politik nicht mehr – und umgekehrt: Die Volksvertreter rätseln über das Volk.

Die Sprache der EU-Bürokraten in Brüssel verstehen die Menschen vor Ort nicht. Der Grund ist nicht die Übersetzung.

Der ganze Hass, die Häme, die Attacken gegen die Eliten irritieren nicht nur die Amtsinhaber, sie rütteln am System, das darauf ruht, dass das Wahlvolk Politikerinnen und Politikern das Politikmachen anvertrauen: Mach du das mal, du verstehst etwas davon. Stattdessen nun die Unterstellung, dass sich angebliche Vollpfosten in Brüssel und Berlin aus Bosheit oder Unverstand immer neuen Unsinn ausdenken. Pesonen weiß das. „Bei einer Veranstaltung fragte mich jemand sarkastisch: „Wenn Sie morgens in Ihr Büro gehen, ins Berlaymont, in dieses nette Gebäude, denken Sie dann wirklich, dass Sie für Frieden und Stabilität arbeiten?“ Und ich sagte, tja, ehrlich gesagt: „Ja, das denke ich tatsächlich ziemlich oft.““ Nicht immer, das weiß Pesonen, kann man das vermitteln.

Das größte Problem sei die Sprache, sagt der Finne, und meint nicht die 24 Amtssprachen der EU, sondern das Kauderwelsch der Abkürzungen und Codeworte – Coreper, Trilog, PRIIP, PEPP, PAFF. „Wir leben in einem Silo, wenn man das so nennen möchte“, sagt er. „Und selbst die gesprochene Sprache, die wir und unsere Politiker nutzen, ist nicht so, wie Leute wirklich reden.“ Die Fachwörter, das Spezialwissen: „Donald Trump macht das nicht: Er hat eine klare Message.“

Auch die europäischen Populisten malen die Welt großzügig in Schwarz und Weiß. Ihre Tweets landen auf Millionen Handys direkt neben dem Kopfkissen. Mit simplen Mitteln werden Botschaften gesetzt – von Matti dem Arbeiter in seinem improvisierten Studio in Helsinki, von anderen Politikern, von Bots und Trollfabriken. Das EU-Megafon der Spezialisten in Brüssel ruft von sehr weit her dagegen an. Trotz der 122 Millionen: Es scheint ein ungleicher Kampf.

Kommentare

Kommentar verfassen

0 Comment