Spitzenkandidatenprinzip: Europa am Ende einen Bärendienst erwiesen

<p>Bei den Medien derzeit mehr gefragt als bei den EU-Parlamentsfraktionen: Ursula von der Leyen, designierte Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker.</p>
Bei den Medien derzeit mehr gefragt als bei den EU-Parlamentsfraktionen: Ursula von der Leyen, designierte Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker. | Foto: dpa

Im EU-Parlament ist man immer noch wegen des Scheiterns des Spitzenkandidatenprinzips sauer, mehr bei den Sozialisten als bei den Konservativen. Klar: Erstere wägten ihren Kandidaten Timmermans schon auf dem Sessel des Kommissionspräsidenten, nachdem der EVP-Spitzenmann Weber als zu leicht befunden worden war.

Die Aufregung ist im Wesentlichen unbegründet. Schon in der Genesis war das Prinzip des Spitzenkandidaten mindestens so undemokratisch wie die jüngste Nominierung des EU-Spitzenpersonals: Beide fanden im Hinterzimmer statt. Jetzt saßen dort 28 Staats- und Regierungschefs, vor einigen Jahren Jean-Claude Juncker, Martin Schulz und ein paar Parteistrategen, die darin eine gute Möglichkeit sahen, sich die Spitzenposten in der EU auf Dauer zu sichern.

Das Prinzip bleibt undemokratisch, solange es keine gesamteuropäischen Listen gibt: Weber konnte nur in Bayern gewählt werden, Timmermans nur in den Niederlanden. Weber kam mit seiner CSU/EVP gerade mal auf 40% der Stimmen. Timmermans PvdA/SPE konnte knapp jeden fünften Wähler überzeugen.

Man stelle sich vor, die EVP hätte Pascal Arimont als Spitzenkandidat nominiert. Selbst wenn alle in der DG ihn gewählt hätten – andere konnten ihn nach den geltenden Regeln nicht wählen – wäre er auf 0,01 % der 400 Millionen Wählerstimmen in Europa gekommen. Mein Verständnis von demokratischer Legitimierung geht anders.

Nota bene: Die von Macron geforderten und von einigen Parteien unterstützten transnationalen Listen hat vor allem die EVP verhindert.

Ja, Europa braucht mehr Demokratie: Die bekommt es, wenn das Parlament mehr Gewicht gegenüber Rat und Kommission bekommt. Dafür lohnt es sich eher zu kämpfen als für den Rohrkrepierer „Spitzenkandidat“. Ja, Europa braucht fähiges Personal, es braucht die Besten! Und zwar so verteilt, dass sie die ihnen verliehene Macht auch durchsetzen können. Das würde bedingen, dass nicht nur die Achse Paris-Berlin funktioniert, sondern dass Wege gefunden werden, Westeuropa mit Mittel- und Osteuropa, und Südeuropa mit Nordeuropa zu versöhnen. Auch das leistet die Spitzenkandidatenregelung nicht. Sie würde außerdem eine Art Vorwahlabkommen bedingen: Ist so etwas etwa demokratisch?

Und ja, was Europa vor allem braucht, ist der Transfer von Befugnissen von der nationalen auf die EU-Ebene. Das ist wohl ebenso wenig zu erwarten, wie der Erneuerungsschub, der, unisono und ähnlich künstlich, von den Wahlplakaten fast aller Parteien herunter lächelte.

Das Spitzenkandidatenprinzip hat das notwendige Ringen um ein besseres, ein sozialeres, ein gerechteres, ein nachhaltigeres, ein anderes Europa nicht beflügelt, sondern ihm von Beginn an die Flügel gestutzt. Es hat von den wichtigen Themen, dem „Was“, und von dem Geist der Zusammenarbeit, dem „Wie“, abgelenkt und alles auf das „Wer“ fokussiert.

Die Befürworter des Spitzenkandidatenprinzips müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass sie sich verschätzt haben. Sie wollten dem Europäischen Rat ihre Lex diktieren. Sie sind darin gescheitert. Jetzt bleibt ihnen kaum eine andere Wahl, als ihren Parlamentspräsidenten so zu wählen, wie der Rat es vorgegeben hat, und das Spitzenpersonal, wenn auch zähneknirschend, durchzuwinken. Sie haben damit sowohl Europa als der Demokratie einen Bärendienst erwiesen. An den Rändern der Demokratie reibt man sich die Hände: 2024 wird abgerechnet!

Kommentare

  • Dem Kommentar kann man nur beipflichten. Allerdings: ohne die notwendigen Reformen benötigt dieses Europa nicht die besten politischen Köpfe... sondern nur durchschnittliche Technokraten. Denn die bisherigen Resultate eines undemokratischen EU- Molochs bezeugen nichts anderes. Auch wenn der eine oder andere "Spitzenpolitiker" sich dann kein Weingut in Italien mehr leisten kann... Sorry. Das Abwandern der nationalen "Politikerelite" an die europäischen Tröge, ist nichts anderes, als "Perlen" vor die Säue. Nachdem der EU-Apparat mitsamt seiner überdotierten Ämter, Posten und Pöstchen seine akzeptablen Grenzen längst überschritten hat, gibt es nur einen Weg: Gesundschrumpfen und aus einem Europa der Märkte ein Europa der Menschen formen. Alles andere ist Verschwendung.

  • Herr Schröder, ich möchte auf diesen Beitrag zurückkommen, da das Thema noch lange nicht erledigt ist, und zwei Sätze hervorheben: „Ja, Europa braucht fähiges Personal, es braucht die Besten! » Stimmt! Auch wenn Herr Leonard das anders sieht: „ohne die notwendigen Reformen benötigt dieses Europa nicht die besten politischen Köpfe... sondern nur durchschnittliche Technokraten.“ Technokraten stehen nur für das „Weiter so“. Reformen - die eigentlich niemand bezweifelt, nur über deren Inhalt gehen die Meinungen auseinander - können nur von erfahrenen Politikern angeschoben werden, die sich auch gegen nationale Partikularinteressen durchsetzen können, und deren gibt es 28 bzw. bald 27. Der zweite Satz lautet: „Und ja, was Europa vor allem braucht, ist der Transfer von Befugnissen von der nationalen auf die EU-Ebene.“ Aber, aber, da werden alle EU-Kritiker laut aufschreien, das geht gar nicht, dem „undemokratischen EU-Moloch“ noch mehr Macht zu verleihen, hat er davon doch schon viel zu viel, so dass eigentlich ein „Gesundschrumpfen“ angesagt wäre. Also zurück zum nationalen Kleinklein statt europaweiter Regelungen, was dann aber wieder Grenzkontrollen mit Zoll- und anderen bürokratischen oder protektionistischen Schranken und damit das Ende des Binnenmarktes implizieren würde. Dann hätten wir endlich wieder „ein Europa der [nationalen] Märkte“, aber ob wir dann auch ein „Europa der Menschen“ haben würden, was immer das konkret heißen mag? Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren.

  • Hallo Herr Schleck! Um evtl. Missverständnisse auszuräumen. Ich bin für eine umfassende Reform der europäischen Institutionen und auch für mehr europäische Befugnisse. Die Entwicklung kann m.E. jedoch nur von den Nationalstaaten ausgehen, da hier die Bereitschaft vorhanden sein muss, Befugnisse und erforderliche Geldmittel hierfür zur Verfügung zu stellen. Es wird nie zu einer entsprechenden Reform (von "oben" nach "unten") kommen, wenn auf nationalstaatlicher Ebene darüber keine Einigkeit besteht. Eine Reform der EU bedarf jedoch vor allem der Unterstützung der Menschen und dazu des Gefühls, dass dieses Europa in erster Linie dem Wohl seiner Einwohner verpflichtet ist und nicht dem Wohl des europäischen Politik- und Beamtenapparates (30.000!). Solange Begriffe wie Solidarität, Demokratie, Menschenrechte, Verteilungsgerechtigkeit, Umweltbelange... und eine gesunde Verhältnismäßigkeit bei der Gestaltung und Verwaltung nicht ansatzweise auf europäischer Ebene auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können, wird es dieses "Europa der Menschen" nicht geben und somit nur eine Utopie bleiben. Das aktuelle Postenkarrussel verdeutlicht, dass die Einsicht der Politikertelite davon weit, ganz weit entfernt ist.

  • Na, Herr Leonard, dann wollen wir unseren Dialog hier mal fortsetzen. Schade übrigens, dass dieses wichtige Thema, wie auch andere, hier völlig ohne Resonanz bleibt… Da sind wir uns also in punkto Reformen der EU im Prinzip einig. Wie jede Institution muss auch die EU sich laufend verbessern und an die geänderten Umstände anpassen, sollte sie nicht Gefahr laufen sich zu überleben. Die Frage ist nur, wie soll sie das und was genau soll reformiert werden, ganz konkret. Im Gegensatz zu Ihnen glaube ich nicht, dass die europäischen Instanzen da passiv bleiben und von „Technokraten“ bloß verwaltet werden sollen. Initiativen und Ideen müssen auch von „oben“ lanciert und in die Diskussion eingebracht werden. Nur auf die Nationalstaaten zu vertrauen, greift zu kurz. Da braucht es dynamische Organe: einen Vorsitzenden des Rates, einer Kommission (die ja nicht nur aus deren Präsidenten besteht) und auch ein Parlament (auch nicht nur ihr Präsident), die Ideen aufgreifen, konkret ausarbeiten, zwischen unterschiedlichen Interessen (28!) vermitteln, Kompromisse (denn ohne die geht es nicht) mehrheitsfähig machen…. Auch Ihre Feststellung „Solange Begriffe wie…“ teile ich nicht in ihrem generellen Pessimismus. Solange Europa kein von einem „neuen Augustus“ (David Engels) „geführter“ (!) Einheitsstaat ist, der „von oben nach unten durchregiert werden kann“ (idem), was hoffentlich nie geschehen wird, solange wird es bei kleinen Schritten bleiben müssen. Dabei wurde schon viel erreicht, wenn ich die heutigen Verhältnisse mit denen vergleiche, die ich als Kind und Jugendlicher vor mehr als einem halben Jahrhundert in Erinnerung habe. Menschen- und Bürgerrechte? Wann waren die europaweit besser geschützt als heute? Übrigens auch die Verbraucherrechte! Was die EU konkret inzwischen schon gebracht hat, nicht nur für die Wirtschaft, zeigt der Eiertanz um den Brexit: Man will hinaus, keine Verpflichtungen mehr haben, aber andererseits möchte man auf „möglichst enge Bindungen“ (T. May) an diese EU nicht verzichten. Zum Schluss noch eine Bemerkung: Die EU war im Anfang als „Montan-Union“ (Kohle und Stahl) und „EWG“ (Europäische „Wirtschafts“gemeinsschaft) konzipiert und ist dann Stück für Stück ausgebaut worden, wobei – zugegeben – der Faktor „Mensch“ nicht immer im Mittelpunkt stand. Wessen Schuld ist das? Dass die EU aber nur für die Großkonzerne da sei, stimmt nicht. Man frage mal die deutschen Autokonzerne, was die von den europäischen Abgasnormen halten, bei deren Zustandekommen das sich sonst so europaenthusiastische Deutschland als Bremser betätigt: „Strengere CO2-Grenzwerte für Lkw: Deutschland enthält sich als Einziger“. Wie Deutschland vom EGH gerade erst eins auf die Mütze bekommen hat wegen seiner unsäglichen Mautpläne, davon kann Verkehrsminister Scheuer ein Lied singen. Anscheinend ist Deutschland allgemein auch ein Champion in Sachen Vetragsverletzungsverfahren. Wie komplex dieses Europa so ist, dafür steht die Diskussion um ein scheinbar nebensächliches Thema: die Umstellung von Sommer- auf Winterzeit. Da ist bis auf Weiteres keine Einigung in Sicht.

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