„Fallen wir zurück in ein Europa der Nationalstaaten?“


Den Stammbaum von Tanja Russell könnte man wie ein Netz über die Länder Europas aufspannen. Ihre Großmutter mütterlicherseits stammt aus Wien, ihr Großvater aus Stuttgart. Ihre Mutter ging 1967 als Au Pair nach London, um sich dort mit einer Kaffeebestellung im Pub „White Lion“ das Herz eines jungen britischen Chemikers zu erobern – wer dort was anderes als Bier bestellt, war damals wohl liebenswert schutzbedürftig. Ein Job bei Uniroyal in Aachen führte die beiden einige Jahre später ins Dreiländereck – der Grundstein fürs Familienheim wurde hinter der Grenze in Lichtenbusch gelegt. Hier ist Tanja aufgewachsen, in Eynatten zur Schule gegangen und hat dort auch immer musiziert. 1994 hat sie ihren Mann Edwin kennengelernt, einen waschechten Ostbelgier. Heute wohnt die 37-jährige Heilpraktikerin mit ihrem Edwin und den drei Töchtern Alina (10), Fiona (8) und Maike (6) in ihrem Elternhaus. „Mehr Europa ist ja wohl kaum möglich“, sagt Tanja Russell.

„Die Zwischentöne sind mir fremd“

Wie die Grenzlage und die internationale Familienherkunft erahnen lassen, ist im Leben der Fünf das länderübergreifende Programm: Die Mädchen besuchen Schulen in Oberforstbach und Aachen, Alina und Fiona gehen in Eupen zum Karate und spielen im Jugendorchester Raeren Oboe und Klarinette. Die Familie ist viel auf Reisen, vor allem natürlich zur Londoner Verwandtschaft.

Die vielen schlechten Nachrichten zum Zustand Europas machen Tanja Russell Sorgen: „Es kommen Zwischentöne auf, die mir völlig fremd sind. Die Debatte über eine mögliche Teilung Belgiens, die Abwendung der Briten von Europa. Das irritiert mich sehr. Ich bin mit einem völlig anderen Denken aufgewachsen.“ Konkret manifestiert sich das schon im Alltag: „Mein britischer Pass läuft bald ab. Ich war erschrocken, als ich bemerkte, wie selbstverständlich ich darüber nachgedacht habe, ob ich bei der derzeitigen Entwicklung in Großbritannien jetzt lieber einen belgischen Pass beantragen soll.“ Für Tanja Russell bedeutete dies aber einen großen Rückschritt in Sachen europäischer Gedanke: Sie würde es als Zwang empfinden, ihre britischen Wurzeln ein Stück weit zu kappen – und damit einen Teil ihrer Identität. (lb)