Nachtests stellen Geschichte auf den Kopf

Die Dopingproben der Spiele von Rio in diesem Jahr werden vorerst noch nicht geprüft werden. | dpa



Die Liste der überführten Sportler wird fast täglich länger, die Ergebnislisten der Olympischen Spiele 2008 und 2012 müssen immer wieder korrigiert werden: Dutzende Medaillengewinner sind inzwischen bei Nachtests des Dopings überführt worden, selbst für langjährige IOC-Mitglieder ist die Masse an Sündern erschreckend.

„Die Anzahl ist einfach unglaublich, eigentlich unmöglich. Wir verlieren Glaubwürdigkeit. Glaubwürdigkeit ist unsere größte Sorge“, sagte Gian-Franco Kasper, Exekutivmitglied des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) und Präsident des Ski-Weltverbands FIS, der „New York Times“: „Wir müssen aufhören zu behaupten, der Sport sei sauber. Es ist ein nobles Prinzip, aber in der Praxis? Es ist Unterhaltung. Es ist Drama.“

Drama. Das hat die US-Hochspringerin Chaunte Lowe in den vergangenen Tagen miterlebt. 2008 in Peking wurde die damals 24-Jährige Sechste, am vergangenen Donnerstag wurde bekannt, dass Lowe nach der Disqualifikation weiterer Konkurrentinnen auf den Bronzerang vorrückt – mehr als acht Jahre nach dem Wettkampf.

„Ich habe rückwärts gezählt. Sechs, fünf, vier… Dann habe ich geweint“, sagte sie: „Es ist traurig, aber oft geht man in solche Wettbewerbe und denkt sich: Man muss nur nah genug an die Top 3 herankommen, weil man nie weiß, wer noch positiv getestet wird.“

Zumal der Gewinn der Bronzemedaille eine schwierige persönliche Zeit hätte verhindern können – wenn sie sie schon vor acht Jahren bekommen hätte. 2008 verlor ihr Mann seinen Job, das gemeinsame Haus wurde zwangsversteigert. Dies, so Lowe, wäre nie passiert, wenn sie aus Peking mit einer Medaille zurückgekehrt wäre: „Ich war eine junge, vielversprechende Sportlerin. Sponsoren waren interessiert. Aber das Interesse verschwindet, wenn man nicht auf dem Podium steht.“

Vor den Spielen in Rio hatte das IOC bekannt gegeben, dass 98 Athleten bei Nachttests von Peking und London überführt wurden, hinzu kommen sechs weitere aus den Vorjahren. Insgesamt 79 Fälle sind bislang abgehandelt, unter den Namen sind sechs Goldmedaillengewinner und Dutzende Zweit- und Drittplatzierte. Unter anderem erhielt die 4×100–Meter-Staffel der Frauen nachträglich Gold, da die Russinnen 2008 gedopt waren. Mit weiteren Veröffentlichungen wird täglich gerechnet.

Grundlage sei eine intelligente Auswahl der Proben, sagte ein IOC-Sprecher, der Vorgang von Nachtests ein noch nicht abgeschlossenes Verfahren. Im Vorfeld seien auch die Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) und die betroffenen internationalen Verbände kontaktiert worden. Vor den Winterspielen in Pyeongchang 2018 dürften dann auch die gelagerten Proben von Vancouver 2010 und Sotschi 2014 auf den Prüfstand kommen. (sid/mv)