Doping-Nachbeben erschüttert

Mehr als 1.000 russische Sportler sind nach Ermittlungen der Welt-Anti-Doping-Agentur zwischen 2011 und 2015 Teil einer großangelegten staatlichen Dopingpolitik gewesen. Dies teilte WADA-Chefermittler Richard McLaren bei der Vorstellung seines zweiten Berichts am Freitag in London mit. | Photo News

Russlands Sportsystem steht nach einem schweren Doping-Nachbeben vor dem Kollaps. Der stolzen Sportnation droht wegen ungeheuerlicher Vorwürfe womöglich sogar der komplette Ausschluss von den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang. Mehr als 1.000 russische Sportler sind nach Ermittlungen der Welt-Anti-Doping- Agentur zwischen 2011 und 2015 Teil einer großangelegten staatlichen Dopingpolitik gewesen. Dies teilte WADA-Chefermittler Richard McLaren bei der Vorstellung seines zweiten Berichts am Freitag in London mit.

„Das russische Team hat die Spiele von London in einer Weise korrumpiert, die nie dagewesen ist.“

„Das russische Team hat die Spiele von London in einer Weise korrumpiert, die nie dagewesen ist. Das ganze Ausmaß dessen wird wohl nie bekannt werden“, sagte der Rechtsprofessor aus Kanada auf einer Pressekonferenz im St. Pancras Renaissance Hotel. Namen von Athleten wurden in dem Bericht nicht genannt. Die Manipulationen betreffen demnach die Olympischen Spiele 2012 in London, die Universiade und die Leichtathletik-WM 2013 sowie die Winterspiele 2014 in Sotschi. „Das Austauschen von Doping-Proben hat nicht mit der Schlussfeier der Olympischen Winterspiele in Sotschi aufgehört“, bemerkte McLaren.

Die Athleten sollen entweder selbst gedopt haben oder von „der systematischen und zentralisierten Vertuschung und Manipulation des Dopingkontrollprozesses profitiert“ haben. Auf Seite eins des 95-seitigen Bericht des kanadischen Rechtsprofessors McLaren wurde von einer „institutionellen Verschwörung“ gesprochen, sowohl im Sommer- und Wintersport als auch unter behinderten Athleten.

Die Sportler hätten mit russischen Offiziellen im Sportministerium und dessen Behörden wie der Nationalen Anti-Doping-Agentur RUSADA, mit dem Moskauer Kontrolllabor und dem Inlands-Geheimdienst FSB gemeinsame Sache gemacht, um Dopingtests zu manipulieren.

Wie vor den Sommerspielen in Rio de Janeiro steht das Internationale Olympische Komitee erneut vor einer wegweisenden Entscheidung. Vor allem die eigene Reputation und Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel. Als der erste Teil des Reports dreieinhalb Wochen vor Beginn der Rio-Spiele auf dem Tisch lag, delegierte das IOC die Einzelfallprüfung an die internationalen Sportverbände. Diese kamen ihrer Verantwortung – zumal unter Zeitdruck – aber kaum nach. Gut 280 russische Sportler durften in Brasilien teilnehmen. IOC-Präsident Thomas Bach hat mehrfach betont, die Verantwortlichen eines Dopingsystems – egal ob Athlet, Trainer oder Funktionär – müssten gezielt bestraft werden. „Ich möchte so eine Person niemals wieder bei Olympischen Spielen sehen“, hatte der deutsche IOC-Chef zuletzt gesagt und seine Forderung wiederholt, schweren Betrug im Sport mit einem lebenslangen olympischen Bann zu ahnden.

Eine erste gereizte Reaktion aus Moskau ließ nicht lange warten. „Bis jetzt hat McLaren über Doping in Russland nichts Neues gesagt. Irgendwelche „.1000 Sportler“ – wo sind die Beweise und die Zeugen?“, sagte Michail Degtjarjow, Chef des Sportausschusses in der Staatsduma.

Doch die Indizien sind erdrückend. Die Ermittler haben nach eigenen Angaben zahlreiche Interviews mit Zeugen sowie Datensätze, E-Mails und über 4.000 Excel-Dokumente ausgewertet. Und das alles scheint nur die Spitze zu sein. „Das Bild ist noch nicht komplett. Wir hatten nur Zugriff auf einen kleinen Teil der Daten und des Beweismaterials, das möglicherweise existiert“, sagte McLaren.

Cheftrainer des Nationalteams seien dafür bezahlt worden, dass sie leistungssteigernde Mittel an die Athleten weiterverkauften, berichtete McLaren. Die RUSADA hat demnach Doping-Kontrolleure bestochen, damit sie die Athleten vor unangekündigten Tests warnen, Proben fälschen oder es den gedopten Athleten ermöglichen konnte, „saubere“ Proben abzugeben. Es seien Beweise dafür gefunden worden, dass Dopingproben von zwölf Medaillengewinnern der Winterspiele in Sotschi manipuliert worden seien. Dabei handele es sich in vier Fällen um Gewinner von Goldmedaillen. Bereits im ersten, am 18. Juli veröffentlichen Bericht hatte McLaren Belege dafür gefunden, dass es eine Verwicklung des FSB bei der Vertuschung von Doping in Sotschi gab. Damals hatte der Kanadier nur 57 Tage für die Untersuchung Zeit – diesmal viel länger. Im Juli hatte er mitgeteilt, dass zwischen 2012 und 2015 rund 650 positive Doping-Proben russischer Athleten in rund 30 Sportarten verschwunden seien. Nun scheint alles noch viel, viel schlimmer zu sein. (dpa)