Was kommt, wenn der WM-Jubel verfliegt? - Auf Putin wartet schwere Prüfung

Der russische Stürmer Artjom Dsjuba bejubelt einen seiner Treffer. | Antonio Calanni/AP/dpa

Die rechte Hand geht zum militärischen Gruß an die Stirn. Der Bizeps des russischen Stürmers Artjom Dsjuba spannt sich beeindruckend, während er auf dem Stadionrasen stramm steht und aus Freude über sein Tor salutiert. Dreimal durfte Dsjuba bei der Fußball-Weltmeisterschaft jubeln. Spätestens nach seinem Treffer beim Achtelfinalsieg gegen Spanien war die soldatische Geste Kult.

Es ist eines jener Bilder, die symbolisch sind für den WM-Erfolg von Gastgeber Russland. Es ist ein Bild, das gut ankommt bei den patriotischen Fans der Sbornaja, beim Fußballgeneral und Trainer Stanislaw Tschertschessow und bei Russlands Machtelite.

Kaum einer dürfte zufriedener den sportlichen Hurra-Patriotismus beobachtet haben als Präsident Putin.

Der Weltverband FIFA und russische Funktionäre wollten die beste WM der Geschichte ausrichten. Sportlich ist Russland dabei weit gekommen. Erstmals seit 1970 schaffte die Sbornaja den Sprung ins Viertelfinale. Dann war zwar Schluss, aber ein Ruck ist durchs Land gegangen.

War die Freude auf das Weltturnier in den Tagen vor der WM bei den Russen noch zurückhaltend, wandelte sich die Stimmung im Rausch der ersten Siege. Sie wurde befeuert vom bunten Karneval der ausländischen Fans. Quasi über Nacht wurde aus Skepsis gegenüber dem eigenen Team Bewunderung, die sich in „Rossija“-Rufen, Straßenfesten und Autokorsos entlud. „Wir haben das Land auf den Kopf gestellt, das freut uns“, stellte Tschertschessow fest.

Kaum einer dürfte zufriedener den sportlichen Hurra-Patriotismus beobachtet haben als Präsident Putin. Er wollte ein Fest der Völkerverständigung, um der Welt zu zeigen, wie gastfreundlich und liebenswert Russland ist. Die starke Leistung der Sbornaja, mit der selbst Kremlstrategen nicht hatten rechnen können, hat seinem Prestigeprojekt WM die richtige Würze verliehen.

„Russland ist wieder wer“, könnte das Fazit lauten. Politisch gilt die Atom- und UN-Vetomacht ohnehin spätestens seit der Intervention 2015 im Syrien-Krieg wieder als einer der großen Akteure auf der Weltbühne. Nun kickt Russland also auch im Fußball oben mit.

Dabei wirkt der Jubel der Russen bei Putins FIFA-Festspielen für Beobachter aufgesetzt. „Heute sind wir alle Fußballfans“, sagte Aljona – 27, russische Fahne auf der Wange – beim Siegesjubel in Moskau. Bislang habe sie sich aber nie für Fußball interessiert. Die Zeitung „The Moscow Times“ findet eine nüchterne Einordnung der Partystimmung: „Die Russen mögen keinen Fußball, sie lieben Siege.“

So vermochte die WM über Schattenseiten hinwegzutäuschen. Der ukrainische Regisseur Oleg Senzow sitzt seit 2014 wegen angeblicher Terrorpläne in russischer Haft und befindet sich seit Wochen in einem Hungerstreik für die Freilassung ukrainischer Häftlinge. In der Moskauer Presse war das kaum ein Thema. Im Schatten der WM kündigte die Regierung eine einschneidende Erhöhung des Rentenalters an. Es gab Proteste außerhalb der Spielorte, sonst ging die Debatte im unpolitischen WM-Patriotismus unter. Der Ärger könnte sich später entladen. Umfragen zufolge sind Putins Beliebtheitswerte abgerutscht.

Experte Andrej Kolesnikow: „Dies ist nur Fußball, es bringt kein demokratisches Denken“

Was wird bleiben? Teure Stadien, von denen die meisten im russischen Ligabetrieb kaum gefüllt werden können; Infrastruktur, die einige Städte etwas lebenswerter macht; eine Sbornaja, die ein wenig vom Erfolg zehren wird, bevor die Kritiker wieder auf den Plan treten.

Der Experte Andrej Kolesnikow vom Carnegie-Zentrum in Moskau glaubt, dass die WM keinen langfristigen politischen Effekt haben wird. „Dies ist nur Fußball, es bringt kein demokratisches Denken“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. „Dies ist das Land, das das potemkinsche Dorf erfunden hat“, sagte er in Anspielung auf die Geschichte, wonach in Russland marode Häuser hinter hübschen Fassaden vor dem Blick des Herrschers versteckt wurden. Auch wenn Ausländer einen positiven Eindruck hätten: Die Russen würden durch die WM nicht freier, die Polizisten nicht freundlicher, meinte er. Am Ende finde sich jeder in die Realität wieder, „inmitten einer weiteren Putin-Amtszeit“.

Auch auf internationaler Bühne sind es dem Experten zufolge die alten Streitfragen, – Krim-Annexion, Ukraine-Konflikt, Wahleinmischung in den USA – die das Verhältnis zum Westen belasten und auch weiter die Agenda bestimmen werden. Diese Realität dürfte Putin schneller einholen, als ihm lieb ist. Am Montag trifft er US-Präsident Donald Trump in Helsinki. „Als Werkzeug, um die Meinung im Westen zu verändern, war die WM von Anfang an nicht geeignet“, so Kolesnikow. (dpa)