EU-Kommissar: „Die Türkei ist nicht nur Erdogan“

EU-Kommissar Johannes Hahn | Photo News



Keine Sanktionen – nicht einmal ein Aussetzen der Beitrittsverhandlungen: Das war bislang der Kurs der Europäischen Union im Umgang mit der Türkei. Nach dem Referendum vom vergangenen Sonntag deutet sich nun ein Umdenken an.

Herr Kommissar, eine Mehrheit der Türken hat nach dem offiziellen Referendumsergebnis für den von Präsident Recep Tayyip Erdogan gewünschten Staatsumbau gestimmt. Was bedeutet das für die EU?

Der Ausgang des Referendums erfüllt uns in zweifacher Hinsicht mit Sorge: Erstens, weil wir hinsichtlich der geplanten Verfassungsänderungen die sehr ernsten Bedenken der Venedig-Kommission des Europarates teilen. Zweitens, weil das Referendum zu einer tiefen Spaltung der türkischen Gesellschaft geführt hat. Wenn der Plan für die Verfassungsänderung im vollem Umfang umgesetzt wird, bedeutet es, dass die Türkei sich noch viel weiter von europäischen Standards entfernt als dies ohnehin der Fall ist, besonders hinsichtlich Gewaltentrennung und unabhängige Justiz.

Bislang hat die EU nicht offen damit gedroht, die Beitrittsverhandlungen einseitig abzubrechen. Muss diese Position jetzt überdacht werden?

Stand der Dinge ist, dass die Verhandlungen bereits jetzt aufgrund der massiven Rückschritte der Türkei in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit de facto zum Erliegen gekommen sind. Aktuell können keinen weiteren „Verhandlungskapitel“ eröffnet werden, auch wenn die große Mehrheit der EU-Staaten die Verhandlungen nicht formell einfrieren wollte. Nach dem Referendum ist jetzt aber die Zeit gekommen, eine grundlegende Diskussion über die EU-Türkei-Beziehungen zu beginnen, inklusive einer möglichen Neubewertung.

Wann könnte die Diskussion losgehen?

Ich hoffe, dass wir beim informellen Treffen der EU-Außenminister Ende April eine erste substanzielle Debatte dazu haben werden. Ich werde selbstverständlich meine Position als zuständiger EU-Kommissar als Grundlage für die Gespräche einbringen. Die Verfassungsänderung und ihre Umsetzung sind nun im Lichte der für den Kandidatenstatus geltenden Kriterien zu bewerten.

In Deutschland und in Frankreich stehen Wahlen an. Befürchten Sie, dass bislang auf Dialog bedachte Regierungen aus Angst vor Türkei-Gegnern im Lager der Populisten vorschnelle falsche Entscheidungen treffen könnten?

Nein. Ich denke, es ist allen Verantwortlichen die Komplexität der Situation bewusst. Es geht auch nicht nur um die Beitrittsverhandlungen an sich. Die enge Zusammenarbeit EU-Türkei vollzieht sich ja auf vielen Ebenen, etwa in den Bereichen Sicherheit und Anti-Terrorbekämpfung, Syrien, Flüchtlingskrise, Wirtschaft, Handel und Energie. Mit einem Satz: Es geht darum, wie wir unser geopolitisch wichtiges Verhältnis neu und effizient ordnen.

Präsident Erdogan erwägt die Wiedereinführung der Todesstrafe. Gilt für die EU-Kommission weiterhin, dass ein solcher Schritt das Aus für die Beitrittsverhandlungen bedeuten würde?

Ja, absolut.

Abgesehen vom Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen – Welche anderen Reaktionen sind als Antwort auf das Referendum denkbar?

Ich möchte den Diskussionen beim Treffen der EU-Außenminister nicht vorgreifen. Aus meiner Sicht sollte die enge Zusammenarbeit mit der Türkei auf jeden Fall aufrechterhalten werden, gerade weil sie ein wichtiger strategischer Nachbar ist. Geografie ist Schicksal – übrigens für beide Seiten, denn die Türkei braucht die EU weitaus mehr als umgekehrt. Es muss allerdings eine realistischere Form der Beziehungen definiert werden, welche die Interessen beider Seiten und die reellen Möglichkeiten der Türkei berücksichtigt. Zugleich muss es weiter unser Anliegen sein, die Menschen in der Türkei zu unterstützen, die trotz Unterdrückung der Meinungsfreiheit mit ihrem „Nein“ ein Bekenntnis zu einer gelebten Demokratie abgegeben haben. Die Türkei ist nicht nur Erdogan.

Sie haben bereits vor Monaten damit begonnen, die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen vorgesehene Unterstützung für die Türkei zurückfahren und verstärkt für Programme zur Verfügung zu stellen, die die Zivilgesellschaft und die Demokratie-Entwicklung stärken. Gibt es in diese Hinsicht noch weiteren Spielraum?

Die Zahlungen, die wir im Rahmen der sogenannten Heranführungshilfe vornehmen, sind natürlich an strikte Konditionen gebunden. Diese werden laufend überprüft und unsere Hilfen bei Bedarf angepasst, so etwa durch eine stärkere Fokussierung auf die Zivilgesellschaft. Auch die Aufnahmefähigkeit in der Türkei ist ein Problem. So wurden von den für die Periode 2014-2020 vorgesehenen 4,45 Milliarden Euro erst 167,3 Millionen Euro ausbezahlt. Auch deshalb werden wir die Beträge wohl nach unten anpassen müssen. Was die mancherorts geforderte Einstellung der Zahlungen betrifft, so muss ich daran erinnern, dass diese an die Beitrittsgespräche gekoppelt sind. Solange die Beitrittsgespräche nicht formell von den Mitgliedsstaaten suspendiert werden, gibt es einen grundsätzlichen Anspruch auf die Heranführungshilfe.

Internationale Wahlbeobachter haben ein vernichtendes Urteil über das Referendum abgegeben. Was sagt die Kommission dazu?

Angesichts des sehr kritischen ODIHR-Berichtes (OSZE-Büro für Menschenrechte und demokratische Institutionen, A.d.R.) und der schon zuvor veröffentlichten Expertise der Venedig-Kommission zu den Verfassungsänderungen wären die verantwortlichen türkischen Politiker gut beraten, die Umsetzung genau zu überdenken und in eine Diskussion mit allen politischen Parteien zu treten. Wir nehmen den Bericht der Wahlbeobachtungskommission sehr ernst. Er betrifft nicht nur den Wahlvorgang selbst, sondern auch das gesamte Umfeld mit all den Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, dem Vorgehen gegen die Opposition, nicht zuletzt den Ausnahmezustand selbst, wodurch laut ODIHR grundsätzlich keine Bedingungen für faire Wahlen gegeben waren. Was mögliche Wahlmanipulationen betrifft, so fordern wir die türkischen Behörden auf, diesen ernsten Verdachtsmomenten in einer sorgfältigen und transparenten Weise nachzugehen.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hat angekündigt, er wolle nach dem Referendum einen Vorschlag vorlegen, um die festgefahrenen Verhandlungen über die Visa-Liberalisierungen zu beleben. Könnte das bedeuten, dass die Türkei doch bereit ist, über eine Reform ihrer umstrittenen Anti-Terrorgesetze nachzudenken?

Wir haben die Erklärung des Außenministers zur Kenntnis genommen. Ich hoffe, dass sich die Türkei nun bewegt, denn der Ball liegt einzig und allein dort. Ankara muss die seit 2013 bekannten Kriterien erfüllen. Sieben Kriterien sind nach wie vor noch ausständig, darunter das sehr problematische Antiterror-Gesetz.

Gibt es irgendetwas, das mit Blick auf das Verhältnis zur Türkei etwas Hoffnung machen könnte?

Die türkische Bevölkerung hat zum zweiten Mal – das erste Mal nach dem versuchten Putsch – ein eindrucksvolles Bekenntnis zur Demokratie abgegeben, das in der hohen Wahlbeteiligung zum Ausdruck kommt. Die beachtliche Zahl der „Nein“ Stimmen zeigt zudem, dass es einen großen Teil der Bevölkerung gibt, der die Verfassungsänderung ablehnt und sich damit eine demokratische, offene und inklusive Türkei wünscht. Das gibt Hoffnung. Das Ergebnis zeigt: Die Türkei darf eben nicht auf Erdogan reduziert werden.