ADHS-Diagnose häufiger bei Klassenjüngsten

Mehr als 32.000 Kinder und Jugendliche in Belgien haben letztes Jahr Methylphenidat, besser bekannt unter den Handelsnamen Ritalin oder Equasym, zur Behandlung von ADHS erhalten. | dpa

Aus einer Studie der christlichen Krankenkasse (CKK) geht hervor, dass zwischen Regionen und Provinzen in unserem Land große Unterschiede bestehen. Auffallend ist auch, dass die jüngsten Kinder einer Klasse das Medikament viel häufiger einnehmen. Und von allen betroffenen Jugendlichen nimmt einer von fünf Patienten das Arzneimittel bereits seit zehn Jahren. Dabei sei Methylphenidat alles andere als harmlos für die Gesundheit. heißt es in einer Mitteilung der CKK.

Methylphenidat ist ein Psychopharmakon mit stimulierender Wirkung, das einige Ähnlichkeiten mit Amphetaminen aufweist. Das Mittel wird bereits seit zwanzig Jahren verordnet bei Aufmerksamkeitsdefizit mit oder ohne Hyperaktivität bzw. Impulsivität (ADHS). In Belgien übernimmt die gesetzliche Krankenversicherung für diese Indikation zwei Arzneimittel, namentlich Ritalin und Equasym bei Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 18 Jahren.

Bei 32.260 Kindern und Jugendlichen aus dieser Altersgruppe wurde 2016 (laut CKK-Statistiken, hochgerechnet auf ganz Belgien) in unserem Land Methylphenidat verordnet und erstattet. Das entspricht zwei Prozent aller 6- bis 18-Jährigen. „Dieser Prozentsatz ist vergleichbar mit unseren Nachbarländern“, bestätigt CKK-Vorsitzender Luc Van Gorp. „Der tatsächliche Verbrauch liegt aber viel höher. Methylphenidat wird in unserem Land häufig auch ohne Erstattung durch die Krankenkasse verkauft, weil nicht alle Bedingungen für die Kostenerstattung erfüllt sind.“.

Beunruhigend sei aber auch, dass seit 2014 jährlich 2 bis 3 Prozent mehr Kinder eine ärztliche Verordnung für dieses Mittel erhalten. Und die CKK kommt in ihrer Studie noch zu anderen auffälligen Ergebnissen.

„Leistungskampf sorgt sogar bereits bei Kindern für viel Stress. Das lässt sich nicht mit Pillen beheben.“

1. In Flandern wird Methylphenidat von 2,35% der Kinder auf ärztliche Verordnung genommen, in Wallonien sind das nur 0,9% und in Brüssel 0,6%. „Im Verhältnis nehmen die jungen Flamen also drei bis vier Mal mehr Methylphenidat als ihre wallonischen und Brüsseler Altersgenossen. Für diesen Unterschied gibt es eine epidemiologische Erklärung“, stellt Luc Van Gorp fest. ‚Möglicherweise hat das damit zu tun, dass der Umgang mit psychischen Problemen in Flandern eher dem angelsächsischen Modell folgt, wo schneller auf die medikamentöse Behandlung zurückgegriffen wird.“

2. 3.800 Kinder zwischen sieben und acht Jahren nahmen 2006 Methylphenidat. Zehn Jahre danach ist das bei 21% dieser Kinder immer noch der Fall.

Zahlreiche Kinder nehmen fast ihr ganzes Schulleben lang Methylphenidat.

Das bedeutet, dass zahlreiche Kinder fast ihr ganzes Schulleben lang Methylphenidat nehmen. „Dabei soll die Einnahme dieses Arzneimittels auf einen möglichst kurzen Zeitraum beschränkt bleiben und stets von einem weiteren therapeutischen Ansatz begleitet sein – psychologische, bildungspolitische und pädagogische Maßnahmen‘“ betont Luc Van Gorp. „Methylphenidat ist alles andere als unschädlich für die Gesundheit. Es können verschiedene unerwünschte Nebenwirkungen auftreten, wie Schlafstörungen, Appetitverlust, Kopfschmerzen, … Auf lange Sicht kann das Mittel Wachstumsrückstände, emotionale Instabilität, Apathie und sogar zeitweilige Psychosen und Ängste (vor allem bei Überdosierung) auslösen, ganz zu schweigen von dem erhöhten Risiko einer Herz- und Kreislauferkrankung. Auch Gewöhnung und Abhängigkeit sind möglich.“

3. Bei Kindern, die zwischen September und Dezember geboren (und demnach häufig die Klassenjüngsten) sind, ist die Gefahr, dass ihnen Methylphenidat verschrieben wird, um 50% größer als bei den Mitschülern, die zwischen Januar und März geboren sind.

Auch Forscher aus anderen Ländern kommen zu ähnlichen Ergebnissen, unter anderem in Australien. „Die Grenze zwischen ADHS und Unreife scheint oft zu verschwimmen“, analysiert Van Gorp. ‚“Wir beobachten einen Trend zur Medikalisierung natürlicher Vorgänge, wie die psychomotorische Entwicklung.“.

Die CKK warnt vor dem Risiko einer vorschnellen ADHS-Diagnose und der übermäßigen Verordnung von Methylphenidat. Hierzu meint Luc Van Gorp: „Die Zahlen werfen Fragen auf zum Druck und zu den Erwartungen, die jeder ab der Einschulung zu spüren bekommt. Der Leistungskampf sorgt sogar bereits bei Kindern für viel Stress. Das lässt sich nicht mit Pillen beheben. Wir brauchen vor allem einen langfristigen Ansatz, bei dem mehr Toleranz gegenüber „schwierigen“ Kindern geübt wird und individualisierte Betreuungsmöglichkeiten für hyperaktive junge Menschen geschaffen werden. Indem wir voreilig Methylphenidat verschreiben, setzen wir die Kinder ohne wirkliche Not zahlreichen Nebenwirkungen und Gesundheitsrisiken aus.“ (red)