Wie Norwegens Abiturienten über die Stränge schlagen

Die Abiturienten (von links oben) Thanaporn Samveang, Margrethe Lia, Tobias Aas und Martin Grønli sind in ihren roten Latzhosen als Russ, als Abiturienten, zu erkennen. | Sigrid Harms/dpa

„In der Abi-Zeit geht es hauptsächlich um Alkohol, Sex und Party“, erklärt die 19-jährige Thanaporn Samveang. „Das klingt etwas komisch, wenn ich das jetzt so erzähle. Eigentlich haben wir einfach nur Spaß.“ Die Polizei hat den Eindruck, dass die Jugendlichen heute eine weit niedrigere Hemmschwelle haben als noch vor zehn Jahren. Thanaporn und ihre Freunde Martin, Tobias und Margrethe besuchen die 13. Klasse der Malakoff-Oberschule in Moss, südlich von Oslo. Seit drei Jahren bereiten sie sich auf diese Partywochen im Mai vor, die diese Woche mit einem Umzug am Nationalfeiertag (17.Mai) ihren Höhepunkt erreichen.

An die eigentlich noch anstehenden Prüfungen denken die Jugendlichen in diesen Wochen kaum. Denn wer „Russ“ ist – so werden die Abiturienten in Norwegen genannt – hat viel anderes zu tun. Es gilt, das richtige Outfit zu tragen, ein Logo entwerfen zu lassen, einen Namen für die eigene Gruppe zu finden, einen Song komponieren zu lassen, Visitenkarten zu drucken und – wer es sich leisten kann – einen Bus für Partys zu besorgen. Das alles kostet Geld. Viele beginnen schon in der 10. oder 11. Klasse damit, es zu verdienen. „Wir haben selbstgebackenen Kuchen und Socken verkauft“, erzählen Margrethe und Thanaporn. Üblich sei es auch, von Haus zu Haus zu gehen und etwa Klopapier an den Mann zu bringen. Russ zu sein, sei teuer. „Es kann vorkommen, dass eine einzelne Person fünf- bis sechstausend Euro bezahlt“, fügt Tobias hinzu.

Auf die Ausstattung für die Abiturienten haben sich inzwischen viele professionelle Akteure spezialisiert. Musiker, die Schlachtrufe und Lieder für die Gruppen komponieren, verlangen Tausende Euro. Logos und Gruppennamen sind schon für ein paar Hundert Euro zu haben. Außerdem gilt es, die richtige Kleidung anzuschaffen. Denn wer Russ ist, trägt spätestens ab dem 1. Mai jeden Tag eine Latzhose. Die ist rot, wenn er die Allgemeine Hochschulreife anstrebt, oder blau, grün oder schwarz, wenn er ein berufsbezogenes Abi macht.

Das ganz große Prestige aber hängt am Partybus. Der kann auch mal 50.000 Euro kosten, rechnet man die Musikanlage und große Lautsprecher mit. Denn wer braucht schon einen Partybus, wenn man nicht schon draußen hört, dass drinnen der Bär abgeht? In diesem Bus touren die Jugendlichen nachts durch die Stadt und tanzen. Dass am nächsten Tag Schule ist, scheint keine Rolle zu spielen.

Thanaporns Gruppe kann sich keinen Bus leisten, aber manchmal wird sie von anderen eingeladen. „Ich finde, das macht einfach nur Spaß: ein bisschen trinken, mit Freunden zusammen sein, Musik hören. Das ist doch besser, als nur zu Hause zu sein.“ Für die Polizei ist die Entwicklung besorgniserregend. „In den letzten Jahren gab es mehr und mehr Klagen über Busse, die mit lauter Musik durch Wohngebiete fahren“, sagt Janne Stømner vom Polizeidistrikt Oslo. Es seien viel Alkohol und auch andere Drogen im Spiel. „Wir haben den Eindruck, dass die Feiern der Abiturienten wilder geworden sind.“ Thanaporn räumt ein: „Einige Leute denken beim Anblick einer Russhose: Troublemaker. Der macht Ärger.“ Doch das liege vielleicht auch an den Russeknuten, den Mutproben, die ein Abiturient bestehen muss, um eine der Aufgabe entsprechende Anerkennung an seine Mütze heften zu können. „Fünf Minuten Poledance an einer Haltestange in der Straßenbahn“ oder „Einen Cheeseburger mit einem Bissen essen“ gehören da noch zu den harmlosen Prüfungen. Bei vielen Knuten geht es um Sex und Alkohol: „Trink einen halben Liter Bier, während du pinkelst“ oder „Habe Sex auf einem Baum“ wird da verlangt.

Doch die Metoo-Kampagne ist nicht spurlos an den Schulabgängern vorübergegangen. Bei den Mutproben wird betont, dass der Sex in gegenseitigem Einverständnis zu erfolgen habe. Das Motto des diesjährigen Umzuges am 17. Mai lautet „Nein heißt Nein“. Ein entsprechender Sticker prangt auf Margrethes roter Latzhose. Die Polizei begrüßt die Initiative. Denn bei den großen Festivals der Russ sei es in den letzten Jahren immer wieder zu Vergewaltigungen gekommen. Martin, der Russ aus Moss, glaubt aber nicht, dass es bei den Festivals zu sexuellem Missbrauch komme, weil die Abiturienten zu viel über Sex sprechen. Er meint vielmehr, das seien Einzelfälle: „Es gibt immer ein paar Leute, die durchgeknallt sind.“ (dpa)