Vom Ritual der EU-Nachtsitzungen in Brüssel

Der niederländische Finanzminister und damalige Eurogruppenchef, Jeroen Dijsselbloem, gähnt während einer Sitzung der EU-Kommission. | Olivier Hoslet/EPA/dpa

Estlands Umweltminister lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. „Zunächst einmal möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass es im Jahr 1964 vierzig Stunden gedauert hat, eine Einigung im Agrar- und Fischereirat zu finden“, sagt Siim Kiisler an diesem trüben Dienstagmorgen im Oktober. Zu der frühen Stunde sitzen die meisten Leute noch am Frühstückstisch. Die EU-Fischereiminister haben da gerade 20 Stunden über die erlaubten Fischfangmengen in der Ostsee für das folgende Jahr gefeilscht. Vor einer Handvoll Journalisten und einigen übermüdeten Diplomaten legt Kiisler dann in aller Seelenruhe die Details dar.

Fischerei-Ministertreffen zählen zu den langwierigstenim EU-Alltag.

Die Fischerei-Ministertreffen zählen zu den langwierigsten im Brüsseler und Luxemburger EU-Alltag. Für Dutzende Fanggebiete und Fischarten werden auf die Tonne genau die Höchstfangmengen ausgehandelt. Die Staaten ringen dabei oft bis in die frühen Morgenstunden um jedes kleinste Zugeständnis. Minus 39 Prozent Höchstfangmenge für den Hering in der westlichen Ostsee, keine Änderungen beim Dorsch, heißt es dann etwa abschließend.

Während es bei diesen und anderen Treffen zumindest einen gewissen Sachzwang und komplexe Materien zu bewältigen gibt, macht einigen Beteiligten in anderen Ratsformationen oder bei den Treffen der Staats- und Regierungschefs noch etwas ganz anderes zu schaffen: der Showeffekt.

Er werde dreimal das Hemd wechseln, kündigte etwa der ehemalige britische Regierungschef David Cameron Diplomaten zufolge vor dem EU-Gipfel im Februar 2016 an, bei dem die EU um ein letztes Angebot an Großbritannien rang, das die Briten noch zum Verbleib in der Staatengemeinschaft bewegen sollte. Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite prognostizierte da bereits: „Jeder wird sein eigenes Drama haben, und am Schluss werden wir uns einigen.“

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich sonst auch nach durchstandenen Gipfel-Nächten kaum etwas anmerken lässt, entfloh dem klimatisierten Brüsseler Ratsgebäude. Sie machte einen Spaziergang zu einer nahegelegenen, bekannten Frittenbude („Maison Antoine“) und gönnte sich eine Portion Fritten. Derart gestärkt ging es für Merkel dann zurück – und zum Showdown.

Das einige Monate später folgende Brexit-Referendum machte den hier scheinbar mühsam ausgehandelten Deal zwar bekanntlich zunichte. Doch Cameron bekam bei dem Treffen der EU-Chefs zumindest seinen großen Auftritt. Kommentar aus Delegationskreisen: „Theater ist gut.“

Andere Teilnehmer hadern mit den zähen Nachtsitzungen noch deutlich mehr. EU-Ratspräsident Donald Tusk startete bereits bei seinem Amtsantritt 2014 einen Versuch, die EU-Gipfel auf einen Tag zu begrenzen und die ausufernden Mitternachtsdebatten einzudämmen – mit nur mäßigem Erfolg.

Vollends einen Strich durch die Rechnung machte ihm schließlich das Votum der Briten zum Austritt aus der EU. Seit feststeht, dass Großbritannien 2019 aus der Europäischen Union ausscheiden soll, sind die Gipfel wieder ständig auf zwei Tage angelegt. Am ersten beraten in der Regel die Chefs der 28 EU-Staaten, am zweiten gibt es meist noch eine Runde ohne Großbritannien. Und auch die Nachtsitzungen sind wieder fester Bestandteil. Ob das der Sache dient, sei dahingestellt: Wissenschaftlern zufolge wirken sich 24 Stunden ohne Schlaf auf die Leistungsfähigkeit wie ein Blutalkoholwert von rund einem Promille aus.

Hört man sich auf den Fluren und Korridoren in Brüssel um, wird aber schnell klar: Früher war es noch schlimmer. Berüchtigt sind etwa die damals noch von Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker geleiteten Treffen der Finanzminister des gemeinsamen Währungsgebiets. Als der niederländische Sozialdemokrat Jeroen Dijsselbloem 2013 die Nachfolge als Vorsitzender der Eurogruppe antrat, wurden die Diskussionen etwas kürzer. Doch auch hier bescherten vor allem hitzige Verhandlungen zur Finanzkrise, zu griechischen Rettungskrediten oder dem Spar- und Reformprogramm des klammen Landes den Ministern unzählige schlaflose Nächte.

Manchmal waren dabei auch widrige Umstände zu meistern. Bei Verhandlungen 2012 zu neuen Banken-Eigenkapitalregeln standen etwa nach elfstündigen Marathonverhandlungen keine Dolmetscher mehr zur Verfügung – die Finanzminister mussten auf Englisch weiterverhandeln. Ursprünglich war das Treffen nur für einige Stunden angesetzt.

Brüsseler Nächte gehen also an die Substanz – für alle Beteiligten. Doch im kommenden Jahr dürfte es kaum einfacher werden. Mit voraussichtlich sehr langwierigen und schwierigen Brexit-Gesprächen, Verhandlungen über künftige EU-Budgets und -Fördergelder, Asyl-Reform und Euro-Reform stehen einige harte Nüsse schon jetzt auf dem Programm. „2017 war ein volles Jahr für uns“, meinte ein Sprecher der EU-Kommission zum Abschied bei seinem letzten Auftritt vor der Weihnachtspause. „Ich habe keinen Zweifel, dass es ein geschäftiges Jahr für alle von Ihnen war“, sagte er an das Brüsseler Pressekorps gerichtet. „Die schlechte Nachricht ist: 2018 wird noch intensiver.“ (dpa)